Für zwei Zigaretten ass er auch Maikäfer

Thedor Marxer (1921 – 1968) im Bild links neben dem VW-Käfer anlässlich des Liechtensteiner Feuerwehrtages am 5. August 1951 in der Gemeinde Mauren.

Theodor (Thedor) Marxer (1921 – 1968) war ein Maurer Unikum. In jungen Jahren wurde er von der Englischen Krankheit heimgesucht, an der er ein Leben lang zu leiden hatte. Thedor wurde nur 47 Jahre alt. 

Thedor war bis zu seinem 20. Lebensjahr ein strammer Jüngling. Doch wegen der furchtbaren Krankheit zerfiel sein Körper zusehends. Sein auffälligstes Merk- und Wesensmerkmal: Er zitterte an Händen und Füssen und oft auch am ganzen Körper. Wir jungen Burschen wuchsen sozusagen mit und neben Thedor auf. Sein Vater, «Thedora-Gustav» Marxer, besass im Weiherring das Haus Nr. 154 (heute Garage Wille) mit einer grossen Bündt. Wir waren Nachbarn. Da ereignete sich so manche Geschichte. Weil Thedor anders war als die anderen, wurde er von der Maurer Dorfjugend geneckt. Man sah ihn auch oft in der Nähe der Primarschule. Sein Elternhaus lag nur einen Steinwurf entfernt. Thedor war – einfach ausgedrückt – ein Maurer Dorforiginal, einer, den jeder in Mauren kannte.

Schon allein seine Sprache war «urkomisch». Er sprach langsam, zerhackt und stockend. Wir versprachen ihm dann und wann Zigaretten. Parisienne ohne Filter war seine Lieblingsmarke. Aber er rauchte auch anderes Zeug – Stumpen, Zigarren, Zigarillos. Einmal machte ich Thedor das Angebot, wenn er einen Maikäfer essen würde, bekäme er von mir zwei Parisiennes. Er schlug ein und zerkaute den Maikäfer. 

Verfolgungsjagden
Was er nicht gerne hörte, war der Ausspruch: «A Ringile und a Töpfle» oder «Geissafötla». Wir wissen gar nicht, wer ihm diese Schimpfnamen gegeben hat. Auf jeden Fall wurde Thedor fuchsteufelswild, wenn er sie hörte, und wir mussten in sprichwörtlichen Verfolgungsjagden das Weite suchen. Vor Beginn seiner schleichenden Erkrankung konnte Thedor sehr schnell rennen. Es entkam ihm kaum einer, den er «auf der Latte hatte». Aber er tat nie einem Mädchen oder Burschen etwas zuleide. Thedor wollte nur seinen Spass und die Bestätigung, dass er den anderen körperlich überlegen war.

Oft sah man ihn in Nachbars Bäckerei Ritter (Güg). Er verrichtete kleinere Arbeiten und bekam dafür Süssigkeiten, auf die er ganz scharf war. Besonders die Linzerschnitten hatten es ihm angetan. Eines Tages bemerkte Otto Ritter, Jahrgang 1940 (dr’ Güga-Otto), dass ihm eine Blechform samt zirka zwei Dutzend Linzerschnitten fehlte. Als er auf die Suche ging, fand er Thedor samt Blechform langgestreckt auf dem Heu in der Scheune neben der Backstube liegen. Die Hälfte der Süssigkeiten hatte Thedor bereits verspeist. Ottos Vater, Bäckermeister Ludwig Ritter, war ein friedfertiger und lustiger Mann. Eigenartigerweise hatte es Thedor auf ihn abgesehen. Eines schönen Tages holte Ludwig beim «Rössle-Brunnen» Wasser. Plötzlich schnalzte eine Geissel und ehe sich Ludwig versah, verspürte er einen stechenden Schmerz auf dem Rücken. Thedor schlug auf ihn ein. Ludwig ergriff die Flucht mit dem ganzen Buckel voller Striemen, die höllisch schmerzten und ärztliche Hilfe beanspruchten. Später revanchierte sich Otto für seinen Vater und verprügelte Thedor dermassen, dass er nie wieder jemanden von der Bäckerei Ritter angriff. 

Thedor musste vieles ertragen und einstecken. Besonders als seine furchtbare Krankheit immer schlimmer wurde und er sich nur mit Mühe bewegen konnte. So weiss ich von einem Vorfall, der uns in der Schule «Tatzen» vom Lehrer beschert hat. Wir trafen Thedor im unteren Teil des «Kirchawegles», das mit einem Rohrzaun versehen war. Es war im Februar und bitterkalt. Wir versprachen Thedor wieder Zigaretten, wenn er seine Zunge an den Rohrzaun halten würde. Gesagt, getan. Thedor streckte seine Zunge an den kalten, mit einer Eisschicht überzogenen Zaun. Dann wollte er sich wegbewegen, konnte aber nicht. Die Zunge war am Zaun festgeklebt. Er riss und schrie. Die Jungen verstoben in alle Himmelsrichtungen. Ich blieb bei Thedor und wollte ihm helfen, vom Zaun loszukommen. Aber alles half nichts. Dann fiel mir ein, dass heisses Wasser vielleicht helfen würde. Ich lief die 100 Meter zu meinem Elternhaus und brachte heisses Wasser, das ich über den kalten Zaun rinnen liess. Und siehe da, Thedor war los. Seine Zunge blutete noch und ich bekam von ihm einen furchtbaren Tritt in den Hinteren, sodass ich über die Stiege auf die Weiherringstrasse stürzte. Es war mir recht geschehen. 

Im Grunde genommen war Thedor ein lieber, wenn auch skurriler Kerl, der erst gegen Ende seines Lebens unberechenbar wurde, sodass er in ärztliche Obhut gegeben werden musste. Wir Jugendlichen hatten manch schöne Zeit mit Thedor erlebt. Er gehörte zum Dorfleben und keiner von uns hat ihn bis heute vergessen.
(Erzählt von Herbert Oehri, Oktober 2001)