Auch was Verbrechen angeht, ist Liechtenstein keine Insel. Aufgeschreckt wurde das Land vor 50 Jahren, als bei einer Gerichtsverhandlung der Richter vom Angeklagten erschossen wurde. Vor 25 Jahren fiel ein Grenzwächter im Ruggeller Riet bei seiner Dienstausübung einem Verbrechen zum Opfer.
Text: Günther Meier
Ein Zivilprozess im Gerichtssaal, damals noch im Regierungsgebäude in Vaduz, ein Prozess um ausstehende Zahlungen für Bauleistungen, bei dem sich Bauherr und Unternehmer gegenüberstanden. Eigentlich nichts Spektakuläres, aber auch kein Fall, der tagtäglich vorkommt. Das Obergericht hatte zu entscheiden, ob der Berufungsklage stattgegeben werde, die der offenbar überschuldete Angeklagte angestrengt hatte. Auf der Anklagebank sass Reinhold Glatt, ein Schweizer Bürger mit Wohnsitz in Liechtenstein, der sich im Zusammenhang mit seinem Hausbau in Mauren mit verschiedenen Handwerkern und Lieferanten im Streit befand. Geklagt hatte ein Unternehmer aus Graubünden, der auf die Zahlung einer ausstehenden Rechnung gepocht hatte. Vor Gericht wurde der Bündner von Rechtsanwalt Ernst Büchel vertreten, ein bekannter Politiker, der viele Jahre Mitglied des Landtags war. Die Gerichtsverhandlung leitete Obergerichtspräsident Walter Hildebrand, der die letzte Verhandlung in diesem Gerichtssaal im Regierungsgebäude durchführt, weil die Gerichte wenige Tage später in neue Räumlichkeiten im ehemaligen Collegium Marianum umgesiedelt werden sollten.
1974: Todesschüsse im Gerichtssaal
Auf einen Gewaltakt hatte während der Gerichtsverhandlung nichts hingewiesen. Doch als Richter Walter Hildebrand die Entscheidung des Gerichts bekanntgab, nämlich die Abweisung der Berufungsklage von Reinhold Glatt, zog dieser eine Pistole aus der Aktenmappe und feuerte sechs Schüsse ab. Zuerst zielte Glatt auf seinen Kontrahenten, den er aber verfehlte, dann auf Rechtsanwalt Ernst Büchel, dann auf den Richter, wie das «Liechtensteiner Volksblatt» damals berichtete: «Ernst Büchel wurde in den Oberarm getroffen und konnte selbständig aus dem Gerichtssaal entkommen. Gerichtspräsident Hildebrand wurde aus nächster Nähe von zwei Schüssen in den Kopf getroffen und stürzte rücklings auf den Boden. Die Beisitzer konnten sich rechtzeitig hinter dem Richterpult verschanzen.» Der schwer verletzte Hildebrand wurde ins Spital Grabs transportiert, wo er aufgrund seiner Verletzungen wenige Stunden nach dem Anschlag starb. Dem Rechtsvertreter Büchel, der ins Kantonsspital Chur überführt wurde, wurde die Kugel operativ entfernt.»
Der Täter Reinhold Glatt flüchtete aus dem Gerichtssaal in die unteren Stockwerke und konnte in der Regierungskanzlei von Polizisten festgenommen werden – ohne Gegenwahr wie es hiess. Die Polizei war so schnell vor Ort, weil sie damals noch im Erdgeschoss des Regierungsgebäudes einquartiert war. Bekannt wurde nach dem Mordfall, dass Reinhold Glatt keine Bewilligung hatte, eine Waffe zu tragen. Er hatte zwar einen Waffenschein bei der Regierung beantragt, aber die Bewilligungsbehörde erachtete seine Begründung, sich zur Selbstverteidigung zu bewaffnen, als nicht ausreichend für die Ausstellung eines solchen Scheins.
Der ermordete Richter Walter Hildebrand wurde am 25. Juni 1974 in Eggersriet, Kanton St. Gallen, beigesetzt. An der Trauerfeier nahmen Fürst Franz Josef II. und Erbprinz Hans-Adam sowie Mitglieder der Regierung, des Landtags und der Gerichte teil. Regierungschef Walter Kieber würdigte in einer Rede die grossen Verdienste Hildebrands, der dem Fürstentum Liechtenstein seine überragenden Qualifikationen als Jurist fast zehn Jahre lang in Funktionen am Kriminalgericht und Obergericht zur Verfügung gestellt habe. Liechtenstein verliere mit Walter Hildebrand, betonte der Regierungschef, eine hervorragende Richterpersönlichkeit.
1999: Schusswechsel im Ruggeller Riet
Ziemlich genau 25 Jahre später ereignete sich wieder ein Mordfall in Liechtenstein, dem ein Grenzwächter bei der Ausübung seines Dienstes zum Opfer fiel. Die «grüne Grenze» im Ruggeller Riet wurde damals oft von Schleppern genutzt, um Personen auf illegalem Weg in die Schweiz oder nach Österreich zu bringen. Andreas Flütsch hatte am 16. Juli 1999 Dienst an der Grenze zwischen Liechtenstein und Österreich, als Zweier-Patrouille mit einem Kollegen. Den Grenzwächtern fiel kurz vor Mitternacht ein Auto auf, das auf einem Feldweg in Richtung Österreich fuhr. In der Annahme, es handle sich um einen Personenschlepper, folgten die Beamten dem Fahrzeug. Aus nicht geklärten Gründen war der Autofahrer vor dem kleinen Übergang ausgestiegen und liess sich ohne Widerstand einer Kontrolle unterziehen. Auf Anweisung der Grenzwächter öffnete er bereitwillig den Kofferraum, worin die Beamten eine leere Schachtel mit der Aufschrift «Smith & Wesson» fanden. Die Grenzwächter stutzten, denn «Smith & Wesson» ist der grösste US-Hersteller von Handfeuerwaffen. Deshalb wollten sie eine Leibesvisitation vornehmen, um den Fahrer nach möglichen Waffen abzutasten. Dieser legte, wie angeordnet, seine Hände auf das Autodach, doch dann leistete er plötzlich heftigen Widerstand. Es habe sich ein «Handgemenge» entwickelt, sodass die zwei Grenzwächter grösste Mühe hatten, den offensichtlich kräftigen Mann zu überwältigen, wie die Polizei später an einer Pressekonferenz erklärte. Letztlich gelangt es den Beamten doch, ihm an einer Hand eine Handschelle anzulegen und diese am Dach des Dienstfahrzeuges zu befestigen. Auch an der anderen Hand wurde ihm eine Handschelle angelegt, damit ihn einer der Grenzwächter festhalten konnte. Der andere Beamte entfernte sich ein Stück und forderte über Funk Verstärkung an.
Doch dann eskalierte das Geschehen. Als der Grenzwächter nach dem Funkspruch zum Dienstfahrzeug zurückkehrte, feuerte der gefesselte Fahrer einen Schuss ab, der allerdings ohne grosse Wirkung blieb, weil die Kugel durch das Handfunkgerät abgelenkt wurde. Dann richtete der Fahrer seine Pistole auf den ihn festhaltenden Grenzwächter und verletzte ihn mit drei Schüssen tödlich. Der andere Grenzwächter ging in Deckung, worauf der Fahrer nochmals schoss – und dann vom Beamten mit einem Schuss niedergestreckt wurde. Als die angeforderte Verstärkung etwa eine halbe Stunde später am Tatort eintraf, fanden sie zwei Tote und einen unter Schock stehenden Grenzwächter vor.
Einsatz ohne kugelsichere Westen
Beim toten Grenzwächter handelte es sich um Andreas Flütsch, beim Täter um den deutschen Staatsbürger Stefan Hans Räder. Wie es Räder gelang, trotz Fixierung mit zwei Handschellen zur Pistole zu greifen und die Todesschüsse abzugeben, konnte laut Darstellung des Bundesamtes für Zoll- und Grenzsicherheit über Mordtaten an Grenzbeamten nie genau geklärt werden. Ebenfalls unbeantwortet blieb die damals gestellte Frage, warum die Grenzwächter den Täter nicht nach Waffen abtasteten, nachdem sie ihn mit Handschellen fixiert hatten. Eine Antwort gab es indes auf die Frage, weshalb die Grenzwächter nicht die kugelsicheren Westen trugen, die sich im Dienstfahrzeug befanden: Die Grenzwächter seien davon ausgegangen, dass es sich um einen Schlepper handle, nicht um einen schwerbewaffneten Kriminellen.
Der Täter Stefan Hans Räder hatte die im Auto versteckten Waffen kurz zuvor in der Schweiz gekauft und wollte sie wahrscheinlich unbemerkt nach Deutschland bringen. Im Fahrzeug wurden zwei Revolver, eine Maschinenpistole und 70 Revolverpatronen gefunden. Bei Hausdurchsuchungen an zwei Wohnadressen des Täters in Coburg und Paderborn konnten weitere Waffen sichergestellt werden, womit die Frage im Raum stand, ob es sich lediglich um einen Waffennarr oder um einen Waffenhändler handelte.