Um 4 Uhr morgens startet die Kitzrettung

Neugeborene Rehkitze haben keinen Fluchtreflex und ­ducken sich bei Gefahr einfach ins hohe Gras. Falls ­diese Gefahr von einer Mähmaschine ausgeht, kann das für die Jungen ­tödlich enden. Dieses Szenario wann ­immer ­möglich zu verhindern, hat sich die ­Rehkitzrettung ­Liechtenstein zum Ziel gesetzt. Der Verein hat 84 ­Mitglieder, darunter elf Drohnenpiloten. Die Rehkitzsuche findet in ­Zusammenarbeit mit der jeweils zuständigen ­Jagdgesellschaft und deren freiwilligen Helfern statt.

Text: Heribert Beck

«Der angeborene Drückinstinkt veranlasst Rehkitze, sich bei Gefahr ganz still zu verhalten und an den Boden zu pressen. Nach zwei bis drei Lebenswochen verliert sich dieser Instinkt. Dennoch verlassen sich die Rehkitze immer noch auf ihre gute Tarnung und springen erst auf, wenn die Gefahr auf wenige Meter herangekommen ist. Zu spät also, um sich vor einer schnell herankommenden Landmaschine in Sicherheit zu bringen. Dies wollen die Bauern natürlich vermeiden, und es ist auch das Ziel der Rehkitzrettung Liechtenstein», sagt deren Präsident Dithmar Meier. Begonnen hat die Vereinstätigkeit mit einer Anfrage von Werner Mayer, ob die Zuständigen die Rehkitzrettung in Triesenberg mit einer Drohne durchführen möchten. Er besass eine solche, die er zum Fotografieren nutzte. Gleichzietig wusste er, dass solche Geräte in der Schweiz in Kombination mit Wärmebildkameras zum Suchen und vor allem Finden von Rehkitzen eingesetzt werden. «Er ist auf den Triesenberger Jäger Christian Beck mit dem Vorschlag zugegangen, dies auch im Revier von dessen Jagdgesellschaft auszuprobieren. Da ich diese Technik sehr spannend fand, war ich dem Projekt gegenüber entsprechend aufgeschlossen und habe mich dafür ausgesprochen, es einmal zu versuchen, obwohl mir bewusst ist, dass der Einsatz von Drohnen generell mit Skepsis behaftet ist», sagt Dithmar Meier. «So fragten Christian Beck und ich bei den Landwirten nach, ob sie bereit wären, ihre Felder kartieren zu lassen, um sie vor dem Mähen effizient absuchen zu können.»

Dithmar Meier (links) und Michel Tschiggfrei

Ein guter Start und in erfolgreiches erstes Jahr
Dank der Mithilfe von Wolfgang Kersting, damals beim Amt für Umwelt tätig, kam die Idee auf, das Projekt auf das ganze Land auszuweiten. «Doch die speziell ausgerüsteten Drohnen sind teuer. Sie kosten rund 10‘000 Franken pro Stück, und natürlich brauchten wir mehrere. Um sie zu finanzieren, haben wir 2021 den Verein Rehkitzrettung Liechtenstein ins Leben gerufen», sagt Dithmar Meier. Zusammen mit zunächst 15 gleichgesinnten machte sich der Gründungspräsident auf, um die nötigen Gelder zu sammeln. «Wir haben bei Stiftungen, Privatpersonen sowie Gemeinden angefragt und sind mit der Idee auf viel Gegenliebe gestossen.» So war das Geld für drei Drohnen und weitere Mittel für die Ausbildung der Piloten relativ schnell zusammen.

Im ersten vollständigen Vereinsjahr 2022 haben die drei Piloten Simon Vogt, Mario Beck und Dithmar Meier sowie zahlreiche Helfer 123 Felder mit 383 Hektar Fläche abgeflogen und 43 Rehkitze gerettet. Und das alles in 37 Tagen. «Leider gibt es keine 100-prozentige Sicherheit, und ein paar Kitze wurden trotz allem von den Mähmaschinen erfasst, aber jede Rettung ist ein wundervolles Erlebnis», sagt Meier. Für diese Erlebnisse nehmen er und seine Vereinskollegen es auch gerne in Kauf, dass die Einsätze recht spontan erfolgen, morgens um 4 Uhr beginnen und bis etwa 8 Uhr dauern. «Da die meisten von uns berufstätig sind, werden es von Mai bis Anfang Juli, wenn die Kitze jung sind, oft lange Arbeitstage. Aber wir müssen so früh fliegen, da die Wärmebildkameras die Temperaturunterschiede zwischen den Körpern und dem Boden am besten erkennen, bevor die Sonne alles erwärmt.» Ist ein Kitz einmal aus der Luft ausgemacht, können die Piloten, die bei grossen Flächen zu zweit im Einsatz stehen und alle eine fundierte Ausbildung besitzen, den entsprechenden Punkt auf einem Bildschirm markieren. Am Boden sind wiederum mindestens zwei Helfer, ebenfalls ausgerüstet mit Screens, positioniert, die sich dem Jungtier nähern, es mit Handschuhen oder Grasbüscheln in den Händen behutsam aufheben, neben die zu mähende Wiese bringen und eine Kiste über das Kitz stülpen. Diese Kiste wird mit Steinen beschwert. «Ist das Feld abgesucht, geben wir dem Bauern Bescheid, dass er mit der Arbeit beginnen kann. Das muss natürlich schnell gehen, damit das Tier nicht zu lange unter der Kiste gefangen ist. Aber würden wir es einfach an den Rand setzen, würde es zurück in die Wiese laufen. Sobald das Kitz dann befreit ist, findet es aber rasch wieder mit seiner Mutter zusammen.»

Die anfängliche Skepsis ist gewichen …
Die Einsatzbereitschaft und die Erfolge der Mitglieder der Rehkitzrettung sprachen sich bei den Landwirten und in der Jägerschaft schnell herum, Informationsveranstaltungen wie am Stand, den der Verein an der LIHGA 2022 betrieben hat, am Infotag für Jäger und Landwirte oder an den Biodiversitätstagen der Gemeinden trugen ihr Übriges zur Bewusstseinsbildung bei. «Von der anfänglich noch vorhandenen Skepsis war bald nicht mehr viel zu spüren», sagt Dithmar Meier. So kamen immer mehr Anfragen für Einsätze der Drohnenpiloten. 2023 wurde als Vereinsjahr folglich nochmals erfolgreicher als 2022. An 56 Einsatztagen wurden 207 Felder mit über 705 Hektar abgeflogen und 54 Kitze gerettet. «Wären alle diese Anfragen bereits 2022 an uns herangetragen worden, wären wir überfordert gewesen, aber wir freuen uns über jede einzelne von ihnen, und der Verein ist glücklicherweise gewachsen. Heute sind wir elf Piloten und insgesamt 84 Mitglieder. Ihnen stehen – zusätzlich zu den drei ursprünglichen – vier neue Drohnen zur Verfügung, die durch eine erneute Sammelaktion finanziert werden konnten.» Denn neben Spenden und den Mitgliedsbeiträgen von 50 Franken pro Jahr hat der Verein keine weiteren Einnahmen. «Unsere Arbeit ist für die Bauern unentgeltlich. Unser Lohn für die Einsätze und den zeitlichen Ausbildungsaufwand ist die Rettung der Kitze – und das gilt auch für die Landwirte, die sich sehr gerne bei uns melden und sich ebenfalls immer freuen, wenn ein Kitz gerettet wird.»

… und hat der Euphorie Platz gemacht
Wer diese Freude ebenfalls erleben möchte, ist als Neumitglied im Verein Rehkitzrettung Liechtenstein herzlich willkommen. «Ein spezielles Anforderungsprofil gibt es nicht, und wir sind eine buntgemischte Truppe. Lediglich eine gewisse Flexibilität sollte gegeben sein, da geplante Mäharbeiten bis 24 Stunden zuvor gemeldet werden können. Gleichzeitig achten wir bei der Planung aber darauf, dass die Einsätze nahe am Wohn- oder Arbeitsort erfolgen», sagt Dithmar Meier. «Dank unseres Stellvertretersystems hat dann immer jemand von uns Zeit. Eine Absage wird es bei uns nie geben.» Auch Helfer sind bei den Kitzrettern gerne gesehen. «Wer Interesse daran hat, einmal in unsere Arbeit hineinzuschnuppern, kann sich bei jedem Vereinsmitglied oder der Jagdgesellschaft seiner Wahl melden. Die dort zuständigen Ansprechpersonen koordinieren alles Nötige mit uns. Dank der tollen Zusammenarbeit und des grossen Einsatzes im Vorstand funktioniert das alles reibungslos, wofür ich mich herzlich bedanke. Aber auch den Jagdgesellschaften und den Landwirten ist ein Dank für die gute Zusammenarbeit auszusprechen. Generell darf ich sagen, dass wir in den vergangenen zwei Jahren viel erreicht haben und im Verein grosse Euphorie herrscht.»

Weitere Informationen und Kontaktdaten: www.rehkitzrettung.li