Zur Entwicklung sozialer Ungleichheit

Fabian Frommelt, Forschungsbeauftragter Geschichte am Liechtenstein-Institut

Die ungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen gilt, wenn sie ein gewisses Mass überschreitet, als moralisch stossend und gesellschaftlich destabilisierend. Historisch gesehen gab es jedoch kaum je eine egalitäre Gesellschaft. Relevant ist vor allem die Frage nach dem Ausmass und den Folgen sozialer Ungleichheit.

Eine historische Untersuchung zur Vermögensverteilung in Liechtenstein fehlt. Die Betrachtung der Verteilung nach Vermögensklassen zu drei willkürlich gewählten Zeitpunkten ergibt folgendes Bild: 2019 verfügten 19 Prozent der steuerpflichtigen Personen nach Abzug der Schulden über kein Vermögen. 41 Prozent besassen bis zu 100’000 Franken, 24 Prozent zwischen 100’000 und 500’000, 8 Prozent eine halbe bis eine Million und weitere 8 Prozent mehr als eine Million Franken.

Bereits zu Beginn des liechtensteinischen «Wirtschaftswunders» bestand eine beträchtliche Vermögensdivergenz, wie die Steuerstatistik von 1950 zeigt: Damals verfügten 37 Prozent der Steuerpflichtigen über kein Reinvermögen und 30 Prozent über ein Vermögen von weniger als 10’000 Franken. 27 Prozent besassen 10’000 bis 50’000, 4,5 Prozent zwischen 50’000 und 100’000 und nur 1,5 Prozent mehr als 100’000 Franken.

Die einzige greifbare, weit zurückliegende Steuerstatistik stammt von 1584. Leider sind darin Personen ohne Vermögen nicht ausgewiesen. 38 Prozent der Steuerzahler verfügten über weniger als 100 Gulden, 47 Prozent über 100 bis 500, 12 Prozent über 500 bis 1000 und 3,5 Prozent über mehr als 1000 Gulden. Das geringste Vermögen belief sich auf 10, das höchste auf 3500 Gulden: Selbst in der ländlichen Bevölkerung der Frühen Neuzeit war die Vermögensdisparität hoch.

Die Verteilung der Steuerzahler (ohne Vermögenlose) auf die Vermögensklassen ähnelt sich in allen drei Zeitstufen, jedoch ist die Ungleichverteilung in der Gegenwart am stärksten: Die Gruppen der tiefsten und der höchsten Vermögen waren 2019 grösser als 1950 und 1584, jene mit mittleren Vermögen kleiner.

Während die sozioökomischen Verhältnisse früher Anlass zu Konflikten gaben, war die Vermögensungleichheit in den letzten Jahrzehnten kaum mit starken sozialen Spannungen verbunden. Dies dürfte am seit den 1950er-Jahren aufgebauten sozialstaatlichen Ausgleich liegen sowie am allgemein hohen Wohlstandsniveau, an dem auch untere Vermögensschichten partizipierten: Mit Ungleichheit verbundene Leistungsanreize erhöhen die Produktivität und das Wachstum und letztlich den Lebensstandard aller – jedoch nicht für alle gleich stark: 2019 benötigten 2,4 Prozent der Bevölkerung wirtschaftliche Sozialhilfe. Spätestens, wenn die Ungleichheit ein Ausmass erreicht, an dem die Chancengleichheit und die soziale Mobilität nicht mehr gewahrt sind, kehren sich die positiven Wohlstandseffekte ins Negative.

«Historisch gesehen gab es kaum je eine egalitäre Gesellschaft.»