«Der Kompromiss funktioniert auch nach 100 Jahren»

Regierungschef Dr. Daniel Risch

Mit der Liechtensteiner Verfassung von 1921 bekam das Volk neue, umfangreiche demokratische Rechte, wurde aber gleichzeitig auch in die Pflicht genommen. Darin liegt für Regierungschef Daniel Risch eines der Erfolgsrezepte des Staates Liechtenstein. Zum kurz bevorstehenden 100-jährigen Bestehen der Verfassung wirft er einen Blick auf den Kompromiss zwischen Fürst und Volk, die Entwicklungen um das Jahr 1921 und in die Zukunft.

Herr Regierungschef, was bedeutet das 100-Jahr-Jubiläum der Liechtensteiner Verfassung Ihnen persönlich?
Regierungschef Daniel Risch:
Eine Verfassung ist grundsätzlich die Basis jedes funktionierenden Staates. Sie regelt die Aufgaben und das Zusammenwirken der Staatsgewalten, unter anderem auch die Kompetenzen des Regierungschefs. Somit ist sie also die Grundlage meiner täglichen Arbeit, die der weiteren Regierungsmitglieder und der gesamten Landesverwaltung. Persönlich scheint es mir beachtlich und bemerkenswert, dass ein solches Grundgesetz über einen Zeitraum von 100 Jahren weitgehend unverändert Bestand hat. Denn wie ich in einem Vortrag des Liechtenstein-Instituts gehört habe, beträgt die durchschnittliche Lebensdauer einer Verfassung nur wenige Jahre, bevor sie fundamental geändert wird. Das ist ein Zeichen für die Qualität der Liechtensteiner Verfassung, für die gute Arbeit der Verfassungsväter und ebenso für die Kompromissbereitschaft von Fürst Johann II. und belegt, dass alle Akteure zusammen mit der Verfassung eine stabile Grundlage für die letzten 100 Jahre gelegt haben.

Was verbinden Sie spontan mit der Verfassung von 1921?
Vor allem die Staatsziele, die in Artikel 14 bis 27 festgelegt sind – namentlich die Förderung der Volkswohlfahrt. Oder etwas freier formuliert: Die Verfassung legt fest, dass es uns allen gut gehen soll.

Unsere Vorfahren sind 1921 und im Vorfeld der Totalrevision der Verfassung neue Wege gegangen. Der Dualismus aus Fürst und Volk, aus weitergehenden Rechten für den Monarchen und einer starken direkten Demokratie, war damals äusserst innovativ und wohl auch mutig. Allerdings ist der Kompromiss im internationalen Kontext von Erstem Weltkrieg und europäischen Revolutionen entstanden. Wie zeitgemäss ist dieser Kompromiss heute noch?
Wie Sie richtig sagen, handelt es sich um eine Totalrevision der Verfassung von 1862 und nicht um eine komplett neue Verfassung, was in der Diskussion um die Verfassung 1921 zuweilen nicht ganz korrekt wiedergegeben wird.  Es war aber zweifelsohne ein innovativer Entwurf, der seinesgleichen sucht. Es war zudem ein sehr grosser Schritt für unseren Staat und für die Demokratie. 

Bemerkenswert ist, dass die Abkehr von der Monarchie in Liechtenstein auch kurz nach dem Ersten Weltkrieg – im Gegensatz vielen anderen europäischen Ländern – nicht zur Debatte stand. Wilhelm Beck und seine Mitstreiter haben für die Revision der 1862er-Verfassung die Vorteile des Zusammenwirkens von Fürst und Volk erkannt. Die Kooperation der beiden Souveräne gibt uns bis heute Stabilität, und sie war 1921 so einzigartig wie heute. 

Könnte die Liechtensteiner Verfassung auch heute noch als Vorbild für andere Staaten dienen? Oder ist sie ein Modell, das nur in Liechtenstein funktionieren kann?
Ich denke, dass die Liechtensteiner Verfassung durchaus Elemente enthält, die auch anderen Ländern in ihrem gesellschaftlichen Zusammenspiel guttun würden. Natürlich muss eine Verfassung aber auf den jeweiligen Staat zugeschnitten sein und von seiner Bevölkerung akzeptiert werden. Für unsere gilt glücklicherweise beides.

Welche Elemente wären Ihres Erachtens auf andere Länder übertragbar?
Ein Element sind sicher die umfassenden direktdemokratischen Rechte. Liechtenstein kennt neben dem Referendum bekanntlich nicht nur die Verfassungs-, sondern auch die Gesetzesinitiative. Diese Instrumente übertragen dem Volk Verantwortung, nehmen es aber gleichzeitig auch in die Pflicht. Es ist in Liechtenstein eben gerade nicht so, dass der Einzelne sagen kann, er könne nichts verändern. In unserem Land stehen alle Stimmberechtigten bis zu einem gewissen Grad auch in der Pflicht – und das Gleiche gilt natürlich auch für das Staatsoberhaupt. 

Die Verfassung von 1921 ist die Grundlage, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute stehen.

Daniel Risch, Regierungschef

 

Sie waren vier Jahre Wirtschaftsminister, sind seit März Regierungschef und Finanzminister eines äusserst wohlhabenden Staats. Welchen Einfluss hatte und hat die Verfassung auf die starke Wirtschaft und den gesunden Finanzhaushalt Liechtensteins?
In den vergangenen 100 Jahren hat sich in Liechtenstein natürlich viel verändert, was unserem Wohlstand zuträglich war. Dies gilt in besonderem Masse für die 1920er-Jahre. Ich denke beispielsweise an den Zollvertrag mit der Schweiz von 1923 oder das Personen- und Gesellschaftsrecht von 1926, die beide teils von den gleichen Personen initiiert worden sind wie die Verfassung selbst. Deren eigentlicher Wert liegt für mich aber, wie bereits angeschnitten, darin, dass sie den Bürgern – und seit der Einführung des Frauenstimmrechts den Bürgerinnen – mehr Verantwortung gegeben hat und die Möglichkeit, sich aktiv einbringen zu können. Das ist nach meiner Überzeugung auch ein Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung, den Liechtenstein vor allem ab den 1950er-Jahren erlebte. Wenn man sich einbringen kann, hat das immer einen positiven und inspirierenden Einfluss auf die Menschen. In zentralistischen Staaten denken sich die Einwohnerinnen und Einwohner häufig «Die Regierung macht ohnehin, was sie will». Solche Gedanken werden zwar auch in Liechtenstein manchmal geäussert – der Unterschied ist aber, dass jeder und jede Stimmberechtigte durch Eigeninitiative, mit Unterschriften und mit dem Abstimmungsverhalten etwas verändern kann.

Vonseiten des Liechtenstein-Instituts wurde geäussert, dass das Verfassungsjubiläum ein guter Anlass für gewisse Reformen wäre. Wo sehen Sie in der Verfassung Reformbedarf?
Natürlich kann man Reformen in den Staatsaufgaben vornehmen. Das ist für mich aber eine übergeordnete Diskussion. Meines Erachtens investieren wir die nötige Energie besser in einzelne Gesetzesrevisionen. Denn seit meinem Eintritt in die Regierung im Jahr 2017 hatte ich nie das Gefühl, dass die Verfassung die Arbeit der Minister oder des Gremiums als Ganzes einschränkt. Dass manche Formulierungen von 1921 heute antiquiert klingen mögen, hindert uns in keiner Weise, und es zeigt vielmehr auch die lange Gültigkeit und Tradition der Verfassung. Das heisst aber nicht, dass ich mich gegen Verbesserungen verwehren würde, wenn es einen Konsens gibt. Denn die Verfassung war schon immer ein guter Kompromiss, und sie wird es auch bleiben.

Welche Grundlagen beziehungsweise Chancen bietet die Liechtensteiner Verfassung, um dem Land auch in Zukunft eine positive finanzielle wie gesellschaftliche Entwicklung zu ermöglichen und wohin sollte diese Entwicklung gehen?
Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Die Verfassung von 1921 ist die Grundlage, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute stehen. Die Souveräne können mit ihren Mitteln korrigierend eingreifen, wenn eine Entwicklung nicht zusagt. Wenn alle Staatsgewalten und das Volk ihre Verantwortung weiterhin so wahrnehmen, wie in den vergangenen 100 Jahren, ist die Grundlage für eine erfolgreiche Entwicklung unseres Landes gegeben. Wohin die Reise im Detail geht, ist dann sekundär. Denn die Richtung beruht auf einem breiten Konsens.