Die Stammwählerschaft – eine bedrohte Spezies?

Politologe Christian Frommelt, Direktor des Liechtenstein-Instituts

Am 7. Februar 2021 haben die Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner einen neuen Landtag gewählt. Der Wahlausgang war denkbar knapp, weshalb eigentlich nur die grosse Koalition als Wahlsiegerin bezeichnet werden kann. Umso spannender ist die Frage, wer wen und warum gewählt hat.

Der Wahlkampf mag vielen lau vorgekommen sein. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass keine öffentlichen Veranstaltungen und persönlichen Begegnungen mit Kandidierenden möglich waren. Dennoch: Die Landtagswahlen waren in den vergangenen Monaten neben der Coronapandemie das bestimmende Thema in den Medien und generell im öffentlichen Raum. Auf allen Kanälen porträtierten die Parteien ihre Kandidierenden für Landtag und Regierung. Auch ihre Themenschwerpunkte und politische Grundhaltungen transportierten die Parteien über Wahlprogramme und Wahlspots in alle Haushalte. 

Die starke öffentliche Präsenz der Wahlen hatte zweifelsohne eine Mobilisierungswirkung. Entsprechend überrascht es auch nicht, dass die Wahlbeteiligung 2021 ähnlich hoch war wie 2017. Doch wie stark beeinflusst der Wahlkampf tatsächlich das Wahlverhalten der Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner? Oder anders gefragt: Welches ist der Hauptgrund, weshalb sich die Wählerinnen und Wähler bei den aktuellen Wahlen für den Stimmzettel einer bestimmten Partei entschieden haben? Diese Frage konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Onlinewahlumfrage des Liechtenstein-Instituts, die in Zusammenarbeit mit dem Liechtensteiner Vaterland und dem Liechtensteiner Volksblatt durchgeführt wurde, gleich selbst beantworten. Konkret konnten sie zwischen fünf Antwortmöglichkeiten auswählen: 

  • Gewohnheit/Tradition, 
  • Landtagsteam, 
  • Regierungsteam, 
  • inhaltliches Programm der Partei 
  • sowie die offene Antwort «anderer Grund». 

Der meistgenannte Wahlgrund war das Regierungsteam. Über 35 Prozent gaben demnach an, dass das Regierungsteam für sie der Hauptgrund war, weshalb sie sich für den Stimmzettel einer bestimmten Partei entschieden haben (siehe Abbildung auf Seite 8). Wenig überraschend war das Regierungsteam vor allem bei den Wählenden von FBP und VU sehr wichtig mit jeweils ca. 50 Prozent. Im Unterschied dazu wurden die drei kleineren Parteien – insbesondere die FL und die DpL – vor allem wegen ihres inhaltlichen Programms gewählt. Auch dies überrascht wenig, da diese beiden Parteien einerseits keine Regierungskandidatur stellten und von allen Parteien wohl das schärfste ideologische Profil aufweisen. 

Gründe für Wahlentscheid im Wandel
Überraschend bei den Landtagswahlen 2021 war demgegenüber, dass nur sehr wenige Wählerinnen und Wähler die Antwortmöglichkeit «Gewohnheit/Tradition» auswählten. Über alle Parteien hinweg betrachtet, waren dies lediglich 8 Prozent. Dieser Wert liegt deutlich unter dem Wert aus früheren Umfragen, wo meist über 30 Prozent der Wählenden als Hauptgrund für den individuellen Wahlentscheid Tradition und Gewohnheit nannten. Die differenzierte Auswertung der aktuellen Umfrage zeigt zudem nur geringfügige Unterschiede nach Geschlecht, Alter und Bildung. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Anteil der «Traditionswähler» in der Altersgruppe 25 bis 34 Jahre am höchsten und in der Altersgruppe 65 Jahre und älter am tiefsten ist, wenngleich die Unterschiede über alle Altersgruppen hinweg sehr gering sind. 

Neben dem Hauptwahlgrund wurden in der Umfrage auch weitere Faktoren, die das Wahlverhalten beeinflussten, abgefragt. Für die Wählerinnen und Wähler der beiden Grossparteien FBP und VU hatte dabei vor allem die fachliche Kompetenz der Spitzenkandidatin bzw. des Spitzenkandidaten einen grossen Einfluss auf den eigenen Wahlentscheid, während DU- und DpL-Wählerinnen und -Wähler bei ihrem Wahlentscheid vor allem vom Wunsch nach Veränderung geleitet wurden und die FL wegen ihres inhaltlichen Programms und ihres politischen Stils gewählt wurde. Von allen zur Auswahl stehenden Faktoren wurde der traditionellen Verbundenheit mit einer Partei über alle Parteien hinweg der geringste Einfluss auf das Wahlverhalten attestiert. Heisst dies nun also, dass es in Liechtenstein keine Traditionswähler mehr gibt, und die Parteien demnach keine Stammwählerschaft mehr haben? 

Diese Frage ist natürlich klar zu verneinen. Es ist davon auszugehen, dass die traditionellen Parteibindungen hierzulande weiterhin stark sind und deshalb einen grossen Einfluss auf das Wahlverhalten ausüben. Dies zeigt z. B. die Analyse der sogenannten Wechselwählenden. Dazu zählen Personen, welche sowohl 2017 als auch 2021 an den Wahlen teilnahmen, dabei aber jeweils eine andere Partei wählten. Gemäss den Daten der Wahlumfrage haben ca. 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler von FBP und VU sowie über 70 Prozent der FL-Wählerinnen und -Wähler bei den Wahlen 2017 und 2021 die gleiche Partei gewählt (siehe Tabelle Wählerströme). Vermutlich hat ein Gross-
teil davon bereits zuvor die jeweilige Partei gewählt, weshalb diese Wählenden durchaus als Stammwählerschaft bezeichnet werden können. 

Lesebeispiel erste Zeile (FBP): 78 Prozent jener Wählerinnen und Wähler, die 2017 FBP wählten und 2021 teilnahmen, gaben auch 2021 der FBP ihre Stimme(n). 12 Prozent dieser Wählenden gaben der VU ihre Stimme, 3 Prozent der FL usw. Grau schraffiert ist die «Stammwählerquote», die für die DpL nicht ausgewiesen werden kann, da sie 2021 ja erstmals antrat. Mit lediglich 15 Prozent verfügt die DU über die geringste Stammwählerschaft, was sich auch in dem grossen Stimmenverlust der DU widerspiegelte. 44 Prozent der Personen, welche 2017 DU wählten, wählten 2021 DpL.

Unterschiedliche Sympathien für die Parteien
Ein weiterer Indikator für die Anzahl Stammwählende ist die Höhe der Sympathie, welche die Wählerinnen und Wähler für die von ihnen gewählte, aber auch für andere Parteien hegen. Auch diese Frage wurde in der Wahlumfrage zu den Landtagswahlen von 2021 gestellt, wobei die befragten Personen die Parteien jeweils auf einer Skala von 0 (überhaupt nicht sympathisch) bis 10 (sehr sympathisch) verorten konnten (siehe Tabelle «Mittlere Parteisympathie» auf Seite 9). Erwartungsgemäss sind die Sympathien für die eigene Partei am höchsten. Mit Werten um 7.0 liegt die mittlere Parteisympathie deutlich über der Mitte von 5. Im Unterschied dazu geniessen die anderen Parteien – also diejenigen Parteien, die man nicht gewählt hat – deutlich weniger Sympathien. Dies ist gerade mit Blick auf die Wählerinnen und Wähler der beiden Grossparteien VU und FBP interessant. Werden die Wählenden dieser Parteien nämlich gefragt, wo sie die beiden Parteien aufgrund ihrer Inhalte und Positionen auf einer Skala von links bis rechts verorten, so werden die Parteien praktisch gleich eingestuft und jeweils in der politischen Mitte verortet. Folglich lassen sich die unterschiedliche Sympathiewerte bei FBP und VU nicht mit politischen Inhalten bzw. der politischen Ideologie der Parteien begründen. 

Interessant ist in diesem Zusammenhang ferner auch, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Umfrage ohne liechtensteinische Staatsangehörigkeit die beiden Parteien VU und FBP deutlich öfter als gleich sympathisch einstufen, als dies die Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner tun.  

Lesebeispiel erste Zeile (FBP): Auf einer Skala von 0 bis 10 bewerten die FBP-Wählenden die Sympathie für die FBP durchschnittlich mit 7.1, die VU mit 4.3, die FL mit 3.7, die DU mit 2.7 und die DpL mit 2.8.

Traditionelle Parteibindungen bleiben bestehen
Die traditionelle Parteibindung wird nochmals deutlicher, wenn wir uns nur die Wechselwählenden anschauen (siehe Tabelle oben). Gerade bei den Wechselwählerinnen und -wählern von VU und FBP liegt die mittlere Sympathie für die von ihnen (neu) gewählte Partei tiefer und die mittlere Sympathie für die andere (früher gewählte) Partei höher als bei der Auswertung aller Wählenden. Dies verdeutlicht, dass diese Wählenden in ihrem Wahlentscheid weniger gefestigt sind und durchaus wieder die Partei wechseln könnten. Die Sympathie für die Partei ist deshalb auch ein guter Indikator, um das Wählerpotenzial einer Partei abzuschätzen, und damit auch, von welcher Partei diese Wählenden grundsätzlich kommen könnten. Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch, dass die DpL bei den DU-Wählenden grundsätzlich viel Sympathie geniesst, während jedoch die Wählerinnen und Wähler der anderen Parteien den beiden Parteien DU und DpL nur wenig Sympathie entgegenbringen. Das Wählerpotenzial der noch jungen Partei DpL scheint sich also im Moment vor allem auf die Wählenden der DU zu konzentrieren. 

Die verschiedenen Analysen zeigen, dass die traditionellen Parteibindungen in Liechtenstein wohl immer noch hoch sind und zumindest FBP, VU und FL über eine Stammwählerschaft verfügen. Ein Indiz hierfür sind auch die meist ähnlichen Mehrheitsverhältnisse in den einzelnen Gemeinden Liechtensteins sowie die insgesamt eher geringen Stimmenverschiebungen durch das Panaschieren, also die Möglichkeit der Vergabe von Sympathiestimmen an andere Parteien. 

Lesebeispiel erste Zeile (FBP): Auf einer Skala von 0 bis 10 bewerten Personen, welche 2021, aber nicht 2017 die FBP wählten, die Sympathie für die FBP durchschnittlich mit 5.6, die Sympathie für die VU mit 4.2, für die FL mit 4.6, die DU mit 2.9 und die DpL mit 3.0.

Hauptwahlgründe ändern sich
Doch warum gaben bei der Wahlumfrage 2021 so wenige Personen Tradition und Gewohnheit als Hauptwahlgrund an? Tatsächlich gibt es auch für Stammwählende viele gute Gründe für den eigenen Wahlentscheid, die nicht mit der Tradition zusammenhängen, wie z. B. die fachliche Kompetenz der Kandidierenden oder der politische Stil einer Partei. Es ist aber auch gut möglich, dass es einfach nicht mehr chic ist, sich als Parteiwählerin und -wähler zu bezeichnen, selbst dann, wenn man eigentlich immer dieselbe Partei wählt. Die Stammwählerinnen und -wähler sind also noch längst nicht vom Aussterben bedroht. Dennoch: Hiess es früher, jemand komme aus einem «roten» oder «schwarzen Haus», kann dies heute nicht mehr so eindeutig als Wahlgrund herangezogen werden bzw. möchte man dies heute einfach nicht mehr so sagen. Vielmehr haben die Wählerinnen und Wähler für ihr Wahlverhalten andere Gründe gefunden. Dies spricht für eine aktive Auseinandersetzung mit der Politik. Es müssen sich aber weder die Parteien grundsätzliche Sorgen um ihre Stammwählerschaft machen, noch muss die Wahlforschung zu Liechtenstein neu geschrieben werden.