JOHANNES KAISER im INTERVIEW mit den Vertretern der «Liechtensteinischen Initiativgruppe für Energie Nachhaltigkeit (LIGEN)» für ein marktautarkes Liechtenstein – mit COSMAS MALIN und NIKOLAUS VON SEEMANN.
Die globalen Krisenherde, der Klimawandel, die Inflation, die Energieverfügbarkeit und -preise sowie viele weitere weltumspannende Herausforderungen scheinen die Welt und die Politik zu überfordern. Dabei gäbe es gerade bei den essentiellen Fragen der Energie- und Klimazukunft für den Kleinststaat Liechtenstein ein aussergewöhnliches Optimierungspotenzial, um mit einer substantiellen Erhöhung der Eigenversorgung energieautark zu werden.
Warum sind die Strompreise in Liechtenstein so drastisch gestiegen?
Cosmas Malin: Weil wir ein halbes Jahrhundert nicht mehr wirklich in unsere Energieversorgung investiert haben und daher weitgehend vom europäischen Strommarkt abhängen. Unsere letzte grosse Investition war das Saminawerk im Jahr 1947, das Liechtenstein auf einen Schlag stromautark gemacht hatte. Der Strombedarf stieg über die Jahre und der Eigenversorgungsgrad Liechtensteins fiel auf heute mickrige 32 Prozent für Strom bzw. 12 Prozent für Energie. Ohne einen komplett neuen Ansatz in unserer Energieversorgung werden unsere Energiepreise weiterhin von zunehmenden Turbulenzen in den Märkten bestimmt sein und diese liegen ausserhalb unserer Kontrolle. Was in den letzten Monaten mit den Strompreisen geschehen ist, dürfte erst ein Anfang gewesen sein.
Blicken wir ein paar Kilometer über Liechtensteins Grenzen – zum Beispiel nach St. Anton –, so betragen dort die Stromkosten einen Drittel im Vergleich zu Liechtenstein. Wie erklärt sich das?
Nikolaus von Seemann: Die Energie- und Wirtschaftsbetriebe der Gemeinde St. Anton verfügen über eine eigene lokale Stromproduktion. Sie können 100 Prozent ihres Stromverbrauchs mit regionaler Elektrizität bedienen. Entscheidend ist, dass St. Anton nicht von den internationalen Strommärkten abhängig ist. Dieser Markt ist unberechenbar und volatil. Unsere Preise leiden darunter, weil wir im Gegensatz zu St. Anton den Grossteil unseres Stroms vom europäischen Markt zukaufen müssen.
Auch wenn die globalen Energiepreise etwas sinken würden, gleicht diese Abhängigkeit vom Ausland zum Beispiel im Hinblick auf die internationalen Ausstiegsbestrebungen aus Atom- und Kohlestrom für Liechtenstein vermutlich einem Vabanque-Spiel.
Nikolaus von Seemann: Das tut sie, und selbst wenn die Energiepreise sänken, wäre dies kein Grund zur Entwarnung. Die Unberechenbarkeit wird sich in Zukunft verschärfen. Zum einen unterliegen die Strompreise dem globalen Geschehen, zum anderen machen die aktuellen technischen Entwicklungen wie beispielsweise die Substituierung der thermischen Kraftwerke die Kontrolle unseres Stromnetzes zusehends schwieriger. Keinesfalls vergessen dürfen wir die voranschreitende Klimakrise und ihre destabilisierende Wirkung.
Sie suchen seit einem Jahr intensiv nach Möglichkeiten und Wegen, wie Liechtenstein aus dieser Selbstkasteiung der Energieabhängigkeit heraustreten könnte?
Cosmas Malin: Ja, wie andere beobachteten auch wir die immer deutlicheren Zeichen des Klimawandels mit grosser Sorge, und als im vergangenen Jahr drohende Versorgungsengpässe und absehbare Preissteigerungen hinzukamen, beschlossen wir, in dieser Sache aktiv zu werden. Gleich zu Beginn setzten wir uns zum Ziel, eine Lösung zu finden, die erstens natürlich klimaneutral, zweitens komplett und drittens bis 2030 umsetzbar ist. Komplett bedeutet, dass unser Energiesystem uns theoretisch in einem marktautarken Betrieb jederzeit vollumfänglich mit klimaneutraler Energie versorgen könnte. Dass dies zu leistbaren Kosten möglich wäre, bestätigen unsere Modelle und Simulationen.
Das Ziel 2030 ist nur erreichbar, wenn wir in dem System ausschliesslich bewährte und heute verfügbare Technologien einsetzen. Nachdem ein solches Konzept nun vorliegt, verfolgen wir einen möglichst raschen Projektstart. Der zeitnahe Start und die rasche Umsetzung werden uns entscheidende Vorteile verschaffen. Hierbei werden wir von Liechtensteins kurzen Kommunikations- und Entscheidungswegen profitieren können.
Wie kann Ihrer Ansicht nach für Liechtenstein eine Energieversorgungssicherheit zu bezahlbaren Preisen für die Bevölkerung und die Wirtschaft aufgebaut werden, die auch noch auf klimaneutraler Energieerzeugung basiert?
Nikolaus von Seemann: Auf der Basis eines Systems, das zur Energieerzeugung ausschliesslich auf erneuerbare Energiequellen baut, die unter liechtensteinischer Kontrolle stehen. Eine solche (volatile) Energiegewinnung kann nur unter Einbezug von Energiespeicherung lückenlos funktionieren. Dabei haben wir das Glück, dass Gregor Waldstein (als GF) und ich (als VR) in der Firma Etogas die weltweit erste grosstechnische Anlage zur Herstellung von aus Strom synthetisch generiertem Erdgas aufgebaut haben. Etogas hat weltweit sehr grosse Anerkennung gewonnen und war Teil des E-Gas Projekts von Audi. Gregor Waldstein gilt als Erfinder des Power-to-Gas Konzeptes und arbeitet mit uns am Projekt. Die Bedeutung dieser Technologie in unserem Energiesystem rührt daher, dass mittels Power-to-Gas Energie in sehr grossen Mengen über sehr lange Zeiträume gespeichert werden kann.
Mit dem Saminawerk ist vonseiten der Wasserkraft das Potenzial ausgeschöpft, und so setzt die Regierung in der Energiestrategie 2030 doch sehr auf Photovoltaik. Reicht das aus? Wie hoch lässt sich der Eigenversorgungsgrad steigern?
Cosmas Malin: Photovoltaik auszubauen ist wichtig und richtig. Aber es kann auch zu viel des Guten werden. Ein wichtiger Grund liegt darin, dass PV beispielsweise im Sommer zur Mittageszeit am meisten Strom liefert, wir aber den höchsten Strombedarf im Winter haben. PV ist sehr volatil und liefert nur zu einem Bruchteil der Zeit Strom. Ausserdem ist PV sehr flächenintensiv. Unsere Simulationen zeigen, dass Liechtenstein eine Jahresleistung von etwa 100 Megawatt anstreben sollte. Das ist in etwa eine Verdreifachung des aktuellen PV-Bestandes.
Neben der Photovoltaik werden wir auch Windkraft, Biogas, Power-to-Gas und eine Gasturbine für die Rückverstromung brauchen. Die Gasturbine versorgt uns dann mit Strom, wenn wir zu wenig Wind und Sonne haben. Durch diese Kombination liesse sich so unser Eigenversorgungsgrad auf 100 Prozent bringen.
Hätten wir dann einen souveränen Status in der Energieversorgung, wie heute St. Anton als Vorbild? Aktuell Strompreise mit 9,2 Rappen und nicht 29,6 Rappen – wie in Liechtenstein?
Nikolaus von Seemann: Sogar mehr als das. Wir würden nicht nur jederzeit Strom aus eigenen Anlagen liefern können, sondern auch das heute importierte fossile Erdgas durch lokal erzeugtes Gas sowie Wärmepumpen und Fernwärme ersetzen. Wir hätten dann nicht mehr getrennte Sektoren für unsere gängigen Energieformen, sondern Strom, Gas und Wärme würden alle auf unseren eigenen vernetzten Anlagen produziert werden. Das Gesamtsystem erreicht damit nach unseren Simulationsrechnungen, einen Wirkungsgrad von über 90 Prozent. Die Kosten für Strom wären mit denen in St. Anton vergleichbar, also weit unter dem jetzigen Niveau, und unsere Energie wäre zu 100 Prozent CO2-neutral.
Das wäre ein Leuchtturmprojekt für Liechtensteins Souveränität, Attraktivität und als Wirtschaftsstandort.
Cosmas Malin: Korrekt, Liechtenstein bekäme eine sichere Energieversorgung und langfristig stabile, niedrige Energiepreise. Wir könnten all unsere Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen vollständig erfüllen und alle in Liechtenstein erbrachten Dienstleistungen bzw. von Liechtenstein aus exportierten Produkte wären CO2-neutral.
Wir sollten uns jetzt zum Ziel eines durch uns kontrollierten Energiesystems bekennen und stringent an dessen Umsetzung arbeiten. Nachdem wir sowieso in diese Richtung etwas unternehmen müssen, warum nicht jetzt? Wenn wir unsere Arbeiten jetzt ernsthaft angehen, dann könnten wir in weniger als zehn Jahren ein wahres Leuchtturmprojekt verwirklicht haben, das bestimmt international Nachahmer finden wird.
Wäre dies eine Ergänzung und ein entscheidendes Vorwärtsbringen der Energiestrategie 2030/2050, wenn die Politik das Konzept aufnehmen würde?
Nikolaus von Seemann: Unser Projekt ist mit der Energiestrategie 2030/2050 gut kompatibel. Darüber hinaus führt es Liechtenstein zu einer Marktautarkie mit all den genannten Vorteilen. Die zentralen Unterschiede zur Energiestrategie 2030/50 liegen in der Energiespeicherung, der optimierten Zusammensetzung des Energiemixes sowie in der zeitlich deutlich strafferen Umsetzung.
Cosmas Malin: Wir erachten es geradezu als Pflicht der Politik, sich dieser wohl essentiellsten Agenda der gegenwärtigen globalen Herausforderungen anzunehmen. Die Klimakrise und Wege zu ihrer Bewältigung dürften heute zu den brennendsten Themen überhaupt zählen. Ohne Politik ist ein solch weitreichendes Projekt wie das von uns vorgeschlagene nicht umsetzbar. Die synergiereiche und gegenseitig unterstützende Zusammenarbeit mit den politischen und staatlichen Organen Liechtensteins, den Fachkräften und Unternehmen wie auch der Bevölkerung ist uns dabei sehr wichtig.
Zu den Personen
Cosmas Malin
– Dipl. El.-Ing. ETH
– LiCONiC AG
– Führt eine weltweit tätige Unternehmung, arbeitet in den Fachbereichen Elektrotechnik, Thermodynamik und IT
Nikolaus von Seemann
– Dr. Ing. ETH, MBA HEC
– Arbeitete 15 Jahre als Unternehmensberater (McKinsey und GCI Management) und ist unternehmerisch tätig (z.B. ETOGAS).