Franchise – Ein Argumentarium von Marcus Büchel

Autor: Dr. Marcus Büchel, erschienen im 60plus

Landtag, Regierung und Grossparteien stehen der Initiative zur Abschaffung der Franchise für Rentner ablehnend gegenüber. Nun wird in einer Volksabstimmung darüber entschieden. In diesem Beitrag werden sozioökonomische Hintergründe dieser Entlastungmassnahme beleuchtet.

Beginnen wir alltagspraktisch: Wer seine Gasrechnung für das erste Quartal 2022 in Augenschein nahm, dürfte sich die Augen gerieben haben. War es denn möglich, dass man in diesem Winter so viel verbraucht hat? In Tat und Wahrheit waren es weder Kälte noch altersbedingte Wärmebedürftigkeit, welche die Rechnung hatte hochschnellen lassen, vielmehr schlug ein Preisanstieg pro verbrauchte Kilowattstunde gegenüber demselben Quartal im Vorjahr um 37 % zu. Ein Blick auf die Preisanzeige an der Tankstelle bestätigt den erschreckenden Befund: 2,39 für einen Liter Diesel.

Nicht nur die Energiepreise steigen exorbitant. Es drohen neue Steuern und Abgaben, die mit Klimaschutz[1] begründet werden. Darob entwertet eine Inflation, wie schon lange nicht mehr, den Geldwert und schmälert damit die Kaufkraft. Im April erreichte die Inflation in der Schweiz die 2,5 %-Marke[2]. Die Schweizerische Nationalbank hob, wie soeben gemeldet wurde, „überraschend“ den Leitzins an, um „dem gestiegenen inflationären Druck entgegenzuwirken“.[3]

Unser Nachbarland Österreich stöhnt unter der Last von Inflation und steigender Energiepreise, weswegen die Regierung ein „Milliardenpaket gegen die Teuerung[4]“geschnürt hat, sowie die Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel ankündigte. Die Anzeichen für dramatische ökonomische Veränderungen sind unübersehbar.

Bei uns übt sich die Politik eher in Zurückhaltung. Allerdings räumt der Sozialminister ein, dass „die gesetzliche Schwelle für eine Rentenerhöhung in diesem Jahr überschritten“[5] sein werde.

Die Lage der „Rentner“
Die „Rentner“ gehören zu jenen Bevölkerungsgruppen, die am meisten der Inflation bzw. neuen finanziellen Belastungen gegenüber passiv ausgesetzt sind. Da sie sich nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt befinden, können Rentner nur in Ausnahmefällen aus eigener Anstrengung ihr Einkommen verbessern, um dadurch auf die Teuerung zu reagieren. Weder die AHV noch die Leistungen der Pensionskassen wurden in den letzten zehn Jahren erhöht. Wenn also das Renteneinkommen gleichsam einzementiert ist, bedeutet das, dass der Lebensstandard dieser Bevölkerungsgruppe dementsprechend gesunken ist. Neue Gebühren, Steuern sowie inflationäre Effekte und Preiserhöhungen können vom dem Bevölkerungsteil, der auf Renteneinkommen angewiesen ist, in der Regel nur durch Einschränkungen im Lebensstandard aufgefangen werden. Bei eingefrorenen Renten führt dieser Mechanismus notwendigerweise allmählich und schleichend zur ökonomischen Schlechterstellung.

Im Zweiten Armutsbericht von 2008[6] zeigte sich, dass die Pensionistenhaushalte das zweitniedrigste Einkommen aller Haushalte erzielen (S. 54). Dementsprechend sind die Haushalte mit Alterspension in besonders hohem Ausmass von Einkommensschwäche betroffen (34%). Aufgrund der Sozialleistungen[7] reduziert sich dieser Wert auf 10 %. (S. 66) Nichtsdestotrotz stellen oder stellten[8] die Rentner ökonomisch gesehen die zweitfragilste Bevölkerungsgruppe dar.

„Die AHV ist zur Existenzsicherung“ gedacht[9], so Sozialminister Manuel Frick. Zum Vergleich: Die maximale AHV beträgt 2320 Franken und die Wirtschaftliche Sozialhilfe, die per Definition das Existenzminimum abzudecken hat, 2434 Franken. Ein älterer Mensch mit einer sogenannten Vollrente muss also mit weniger auskommen als ein Bezieher von Wirtschaftlicher Sozialhilfe. Mit der AHV-Pension allein kann nur ein äusserst beengtes Leben geführt werden. Erst zusätzliche Einkommen, insbesondere werden dies Bezüge von einer Pensionskasse sein, erlauben einen einigermassen normalen Lebensstandard.

…und wie sie zu verbessern wäre
Um die weitere Verschlechterung der sozioökonomischen Lage der (jetzigen) Pensionisten aufzuhalten oder diese gar zu verbessern, gibt es zwei Möglichkeiten: Die Erhöhung der AHV oder zusätzliche staatliche Transferleistungen. AHV-Leistungen gehen zu einem beträchtlichen Teil ins Ausland. Bei staatlichen Leistungen jedoch ist es zulässig, diese ausschliesslich an im Land Wohnhafte auszurichten.

Bereits vor zwanzig Jahren hatte man sich im Ressort Soziales Gedanken gemacht, wie die als zu gering eingeschätzte AHV-Leistung angehoben werden könnte. Man dachte an eine pauschale Zulage zur AHV-Rente[10] zur Abfederung der hohen Lebenshaltungskosten im Inland, in deren Genuss ausschliesslich Rentner mit Wohnsitz in Liechtenstein kommen sollten.

Die Abschaffung der Franchise für Personen im Rentenalter, welche Gegenstand der Volksabstimmung ist, fällt in die zweite Gruppe. Die Ausrichtung einer staatlichen Leistung hat gegenüber der Erhöhung AHV-Renten den Vorteil, dass die gesamten eingesetzten Mittel im Inland verbleiben. Im Allgemeinen wird es als durchaus legitimes Interesse jedes Staates angesehen, seine Steuermittel prioritär seiner eigenen Bevölkerung zukommen zu lassen.

Bei positivem Abstimmungsausgang wäre es das erste Mal seit zehn Jahren, dass die ökonomische Lage der Rentner verbessert würde.

Argumente gegen Gegenargumente
Die Giesskannenmetapher: Verbreitet ist die Benennung von allgemeinen Transferleistungen mit dem Begriff „Giesskannenprinzip“, der auch im Informationsblatt der Regierung auftaucht.  Wir haben im Zweiten Armutsbericht nachgewiesen, dass allgemeine Leistungen, wie etwa das Kindergeld, sich effektiv auf die Zielgruppe auswirkt (S. 65 ff.). Allgemeine Leistungen für alle oder bestimmte Bevölkerungsgruppen haben weitere Vorteile: Es werden alle in der Zielgruppe – im Falle der Abschaffung der Franchise die Rentenbezieher – zuverlässig erreicht[11];es gibt keine Hürden über Anträge oder dergleichen, zudem sind die Verwaltungskosten minimal. Man kann darüber hinaus zeigen, dass es durch ein Überwiegen einkommensabhängiger Sozialtransfers zu negativen Effekten kommt.[12] Pauschale Leistungen (exemplarisch dafür das Kindergeld) erzeugen derartige unerwünschte dynamische Probleme nicht.

Dem Argument, dass es ungerecht sei, auch Wohlhabenderen die Franchise vom Staat bezahlen zu lassen, steht entgegen, dass Haushalte mit höheren Einkommen den bezogenen Beitrag durch ihre höhere Steuerleistungen kompensieren.

Zunahme der Arztbesuche: Weder ist die Behauptung, es käme ohne Franchise zur Zunahme ungerechtfertigter Arztbesuche, durch irgendeinen empirischen Beleg untermauert, noch erscheint diese psychologisch plausibel. Selbstverständlich kann man es schaffen, Patienten durch hohe finanzielle Barrieren Arztbesuche zu vergällen.

Die entscheidende Frage ist nur, ob dies medizinisch vernünftig ist. Möglichst viele Menschen möglichst lange mittels einer hohen Franchise vom Arztbesuch abzuhalten, kann nicht das Ziel einer guten medizinischen Versorgung sein, denn die Franchise ist selektiv blind: Sie führt nicht zur (behaupteten) Selektion dahingehend, dass Personen, die gar keinen Arzt benötigen, den Praxen fernblieben, dafür aber jene, die einen Arzt benötigen würden, diesen auch konsultierten. Aus vielen Forschungen ist bekannt, dass Männer ungern und häufig zu spät zum Arzt gehen. Das führt zu schwereren Krankheitsverläufen, kostspieligeren Behandlungen und kostet darüber hinaus die Männer einige Lebensjahre im Vergleich zu Frauen. Diesem Befund zufolge müsste man im Sinne der modernen geschlechtsspezifischen Medizin die Franchise für Männer abschaffen.

Die Franchise trifft die Mittelschicht, und zwar jene Haushalte besonders, deren Einkommen gerade zu hoch ist, um in den Genuss staatlicher Prämienverbilligungsbeiträge zu gelangen, die sich aber jede Ausgabe sehr genau überlegen müssen. Einkommensschwache können von der Prämienverbilligung profitieren. Für diese Gruppe zeitigt die Franchise ebenso wie für Grossverdiener keine lenkende Wirkung.[13]

Die Franchise stellt an sich ein untaugliches Lenkungsinstrument dar und gehört für Männer ebenso wie für Frauen abgeschafft.

Das Neidargument: Dem wohl auf die jüngere Wählerschaft angesetzten Neidargument, dass die Alten zu viel vom Staat erhalten, kann entgegengehalten werden, dass bei den „Alten“ eine Reihe von Sozialtransfers entfallen, von denen „die Jungen“ profitieren, etwa das Kindergeld oder die Mietbeihilfen.  

Die Franchisebefreiung ist ein nicht unerheblicher erster Schritt in die richtige Richtung: Nämlich dem schleichenden Prozess der Verschlechterung des Lebensstandards der älteren Menschen sowie der Verbreitung von Einkommensschwäche entgegenzuwirken. Ohne die sozioökomische Ausstattung der alten Menschen dynamisch auf die sich verändernden wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen, wird das Ziel, den Lebensstandard zu erhalten, nicht erreichbar sein. Und, um einem Missverständnis vorzubeugen: Bei Abschaffung der Franchise erübrigt sich keineswegs die Notwendigkeit, die AHV-Renten zu erhöhen.

[1] Z.B. CO2-Abgabe auf Erdgas

[2] Finanz und Wirtschaft vom 23.5.2022

[3] Radio L, 16.6., 12.00 Uhr; ORF online, 16.6., 9:58

[4] ORF/Ö1 von 15.6.2022, 12:20

[5] Volksblatt, 3. Juni 2022, S 8

[6] Zweiter Armutsbericht. Einkommensschwäche und soziale Benachteiligung, Hrsg.:  Amt für Soziale Dienste/Dr. Marcus Büchel, Schaan 2008. Neuere Daten sind nicht verfügbar. Der vormalige Sozialminister Mauro Pedrazzini hielt einen dritten Bericht, der aufgrund der Periodizität 2018 fällig gewesen wäre, für nicht erforderlich. Offenbar soll aber gemäss Manuel Frick ein „aktueller Armutsbericht“ „voraussichtlich noch dieses Jahr veröffentlicht“ werden.

[7] Insbesondere Ergänzungsleistung zur AHV und Prämienverbilligung.

[8] Wie dargelegt, gibt es keine aktuelleren Daten als die von 2008.

[9] Volksblatt vom 11. Juni 2022, S.8

[10] Angedacht war eine pauschale Zulage für alle AHV-Bezieher, die in Liechtenstein wohnen. Gesetzestechnisch sollte diese Zulage den Ergänzungsleistungen zur AHV und IV nachgebaut sein: Da die Ergänzungsleistungen nicht von den AHV-IV-Anstalten, sondern von der Öffentlichen Hand aus Steuermitteln finanziert werden, kann das Wohnortsprinzip geltend gemacht werden, d.h. nur im Inland Wohnhafte können in deren Genuss kommen.

[11] Allgemeine pauschale Leistungen erreichen die gesetzlich definierten Zielgruppen zu 100 % Im Gegensatz dazu ist jede berechnete Grösse, z.B. die Sozialhilfe, fehleranfällig, was man allein aus der Tatsache erschliessen kann, dass gegen die Entscheide (erfolgreich) Rekurse geführt werden.

[12] Benachteiligung der Einkommensgruppe, die gerade nicht mehr anspruchsberechtigt ist; willkürliche Senkung des Einkommens, um eine Anspruchsberechtigung zu erlangen; vgl. dazu Armutsbericht S. 76ff.

[13] Die Franchise kann als typisches Beispiel dafür herhalten, dass es nicht gelingen kann, vorwiegend mit einer „Finanzpädagogik“ (Bestrafen – Belohnen) das Verhalten der Patienten in Richtung einer sinnvollen Inanspruchnahme der Gesundheitsdienste zu lenken. Der Schimäre der „Finanzpädagogik“ folgend, müsste man Männer finanziell für Arztbesuche gar belohnen.