Gedanken zur liechtensteinischen Erinnerungskultur

lic. phil. Fabian Frommelt Forschungsleiter Geschichte am Liechtenstein-Institut

300 Jahre Fürstentum Liechtenstein im letzten Jahr, 30 Jahre UNO-Beitritt und 25 Jahre EWR-Beitritt in diesem Jahr, 100 Jahre Verfassung von 1921 im kommenden Jahr: Unser gemeinsames, öffentliches Erinnern wird stark von Jubiläen geprägt.

Der Zufall der runden Zahl bestimmt wesentlich mit, an was wir uns gemeinschaftlich erinnern und wann wir das tun. Jubiläen und Jubiläumsanlässe sind Teil unserer Selbstwahrnehmung im Innern und unserer Selbstdarstellung nach aussen. Sie wirken identitätsstiftend. Dabei entspricht die Fixierung auf Jahreszahlen und (häufig) auf staatliche Ereignisse einem antiquierten Geschichtsverständnis, das in der Geschichtswissenschaft und in der Schule längst überwunden ist.

Eine Eigentümlichkeit der öffentlichen Erinnerungskultur in Liechtenstein liegt darin, dass vornehmlich die «Erfolgsgeschichte» im Vordergrund steht und Schattenseiten gerne ausgespart werden. Dies ist nicht so selbstverständlich, wie es scheinen mag: Im Ausland hat sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich ein glaubwürdiger Umgang mit Geschichte auch deren problematischen Aspekten widmen muss. Neben dem seit dem 19. Jahrhundert übliche Feiern einer idealisierten Nationalgeschichte trat nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend das Gedenken an eigenes, schuldhaftes Verhalten: Deutschland musste einen Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust finden, und auch andere Länder stellen sich ihrer Verstrickung in den Totalitarismus oder in anderes Unrecht, seien es Kolonialismus oder Sklaverei, Kindswegnahmen oder sexueller Missbrauch in öffentlichen und kirchlichen Einrichtungen oder anderes. Dies nennt der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen «die moralische Dimension der Geschichtskultur»: die Bewertung vergangenen Geschehens nach den sittlichen und moralischen Massstäben der Gegenwart. Diese Aufgabe fällt indes nicht in den Zuständigkeitsbereich der Geschichtswissenschaft, sondern der Gesamtgesellschaft.

Diese moralische Dimension hat in der liechtensteinischen Erinnerungskultur bislang wenig Bedeutung erlangt. Es beim Glück des Kleinen zu belassen, dank der eigenen Macht- und Bedeutungslosigkeit nicht zu den Hauptakteuren der grossen Katastrophen wie Holocaust oder Kolonialismus zu gehören, oder heikle Aspekte der eigenen Geschichte mit dem Verweis auf historische Publikationen als erledigt zu betrachten, ist jedoch zu einfach. Es genügt auch nicht, das Gedenken einzelnen Personen oder Institutionen zu überlassen. Auch der Kleinstaat soll, nach der wissenschaftlichen Aufarbeitung, seinen Anteil an der Verantwortung in einem Akt öffentlichen Erinnerns übernehmen. So sind etwa die frühneuzeitliche Hexenverfolgung oder die nationalsozialistische und antisemitische Betätigung von Liechtensteinern mittlerweile bestens erforscht. Ein öffentliches Zeichen des Erinnerns und Bedauerns aber fehlt. Die Unabhängige Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg (2001–2005) oder der jährliche Holocaust-Gedenktag sind positive Schritte, ersetzen dies aber nicht.

Ein Feld für die Auseinandersetzung mit Recht, Schuld und Verantwortung wäre auch der Umgang mit Finanzpraktiken wie Geldwäsche oder Potentatengeldern im letzten Jahrhundert: Der mit der Liechtenstein-Erklärung vom 12. März 2009 eingeleitete Paradigmenwechsel hin zu Steuertransparenz und globalen Finanzstandards müsste den Weg für eine Beschäftigung mit dieser Frage freigemacht haben. Ein offener Umgang damit, wozu zentral die Klärung der Faktenlage gehörte, würde die Glaubwürdigkeit der «Weissgeldstrategie» stützen.

Fazit: Die einseitige Beschränkung der öffentlichen Erinnerungskultur auf eine «Erfolgsgeschichte» führt zu einer schiefen, oberflächlichen Wahrnehmung unserer Vergangenheit und einer verzerrten kollektiven (nationalen) Identität. Ohne die Mühe einer Integration negativer (Selbst-)Erfahrungen, sagt Jörn Rüsen, ist Identitätsstärke nicht zu haben. Hieran ist noch zu arbeiten.