COVID-19-Pandemie in FL: Medizinisch-epidemiologische Aufarbeitung

 

Vaduz (ots) – Mit Unterstützung der Regierung hat das Liechtensteinische Landesspital in einer wissenschaftlichen Kooperation mit dem Amt für Gesundheit, der privaten Universität im Fürstentum Liechtenstein, den Kliniken für Infektiologie und Spitalhygiene an den Kantonsspitälern Graubünden und St. Gallen sowie dem labormedizinischen Zentrum Dr. Risch eine epidemiologische Aufarbeitung der ersten Welle der COVID-19-Pandemie vorgenommen.

Die Studie wurde federführend von Matthias Paprotny und den Assistenzärztinnen Sarah Thiel und Myriam Weber vom Liechtensteinischen Landesspital mit Unterstützung von Lorenz Risch vom labormedizinischen Zentrum Dr. Risch durchgeführt. Dem Landesspital wurde von der Regierung in der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie eine zentrale Rolle zugewiesen. Liechtensteinische Patienten wurden bis Ende März am Landesspital abgeklärt, wenn nötig hospitalisiert und im Sinne eines Frühwarnsystems periodisch über ihren Gesundheitszustand befragt.

Seit Ende März steht in der Marktplatzgarage in Vaduz eine Testanlage zur Verfügung, welche von der Liechtensteinischen Ärztekammer organisiert und betrieben wird.

Das Studienprotokoll

Das Studienprotokoll wurde der kantonalen Ethikkommission Zürich unterbreitet. Das Protokoll sah unter anderem vor, dass die bekannten COVID-19-Patienten (Indexpatienten), deren Mitbewohner im Haushalt sowie Personen mit engem Kontakt am Arbeitsplatz rund 50 Tage nach Auftreten der ersten Symptome nochmals für eine Untersuchung eingeladen wurden. Anlässlich dieser Untersuchung wurden Vitalparameter erhoben und eine Blutentnahme zum Nachweis von Antikörpern gegen das SARS-CoV-2-Virus vorgenommen.

Die Kurve in 52 Tagen geglättet

Im Rahmen der ersten Welle der COVID-19-Pandemie ist in Liechtenstein der erste Patient am 2. März 2020, der letzte Fall 52 Tage später am 23. April 2020 diagnostiziert worden. Insgesamt kam es zu 95 COVID-19 Fällen. Die Diagnose wurde dabei aufgrund ihrer Symptome und einer bestätigenden PCR-Untersuchung gestellt. Bei 13 Fällen war der Wohnsitz im Ausland (Schweiz, Österreich), während 82 Patienten im Fürstentum Liechtenstein wohnten. 14% der Fälle mussten hospitalisiert werden. Keiner der Patienten musste beatmet oder intensivmedizinisch versorgt werden. Die durchschnittliche Krankheitsdauer betrug 12, die längste Krankheitsdauer 38 Tage. Eine Seniorin ist verstorben (Mortalitätsrate 1%), alle anderen Patienten sind geheilt. Rund ein Viertel der Erkrankten hatte mindestens eine Vorerkrankung (z.B. Diabetes, Bluthochdruck, Gefässerkrankung, Lungenerkrankung).

Wenig Senioren betroffen

Verglichen mit Schweizer Kantonen befand sich Liechtenstein bezüglich der Häufigkeit von COVID-19-Infektionen in der vorderen Hälfte. Relativ zur Bevölkerung konnte bis am 23. April 2020 eine Rate von 211 Fällen pro 100’000 Einwohner festgestellt werden, was beispielsweise einer höheren Fallrate entsprach als im Kanton Zürich. Die Testfrequenz lag bis zum 23. April 2020 mit durchschnittlich 0.81 Tests pro Tag und 1’000 Einwohner rund 60% höher als in der Schweiz. Im Mittel waren die Betroffenen 39 Jahre alt, was substantiell tiefer ist als in der Schweiz, wo das mittlere Alter 52 Jahre betrug. Nur 13 Patienten waren älter als 65 Jahre. Lediglich eine Bewohnerin eines Altersheims war betroffen. Mit konsequenten Massnahmen (Masken, Hygiene, Distanzregeln, Besuchsverbot, Testung) konnte eine Ausbreitung im Heim erfolgreich verhindert werden.

Antikörpertests identifizieren 50% mehr Fälle im Umfeld

Erfreulicherweise haben sich rund 89 Patientinnen und Patienten sowie 167 Kontaktpersonen bereit erklärt, sich rund 50 Tage nach der Infektion der Indexpatienten im Mai und Juni untersuchen zu lassen. Bei Kontaktpersonen im Haushalt und am Arbeitsplatz wurden Antikörpertests durchgeführt, um festzustellen, ob diese ebenfalls infiziert waren. Die Resultate zeigen, dass sich rund 50% mehr COVID-19-Erkrankungen abgespielt haben als durch Labortests an den Indexpatienten festgestellt wurden, insgesamt konnten 137 Fälle festgestellt werden.

Das Ansteckungsrisiko im engen Umfeld

Wie im Nachhinein durch die Antikörpertests festgestellt werden konnten, haben sich rund ein Drittel der im selben Haushalt lebenden Personen angesteckt. Bei engen Arbeitskontakten ist es in rund 15% der Fälle zu einer Ansteckung gekommen. Die Studie konnte zeigen, dass Isolationsmassnahmen von COVID-19 Fällen zu Hause wirksam sind. In 83% der mit COVID-19 angesteckten Haushaltskontakte wurden zu Hause keine Isolationsmassnahmen eingeführt. Bei den Haushaltskontakten, die sich nicht mit COVID-19 angesteckt haben, wurden zu Hause in 76% der Fälle Isolationsmassnahmen aufrechterhalten.

Häufigkeit von asymptomatischen Verläufen

Die Indexpatienten hatten insgesamt einen milden bis moderaten Verlauf, welcher aber dennoch schwerer war als bei den initial nicht diagnostizierten Haushalts- und Arbeitskontakten. Bei rund einem Viertel der engen Haushalts- und Arbeitskontakte mit COVID-19 ist die Erkrankung asymptomatisch verlaufen. Wenn alle COVID-19 Fälle, also Indexfälle und enge Kontakte im privaten und Arbeitsumfeld, herangezogen werden, dann ist die Erkrankung nur bei 9% der Fälle asymptomatisch verlaufen.

Zur Einschätzung des Erkrankungsrisikos

Die erkrankten Indexpatienten wurden befragt, ob sie sich in einer Risikokonstellation befunden haben, bei der sie sich mit COVID-19 angesteckt haben könnten. Interessanterweise konnte auch mit gründlicher Befragung nur bei 62% der Erkrankten eine Infektionsquelle (beispielsweise Skiaufenthalt in Tirol oder Kontakt mit schon diagnostiziertem COVID-19-Fall) ausgemacht werden. Diese Zahlen weisen eindrücklich darauf hin, dass Tracking Apps bezüglich Früherkennung eine wichtige Rolle einnehmen können.

Erfolgsfaktoren in der Bewältigung der Pandemie

Die Studie kommt zum Schluss, dass Liechtenstein bei der Bewältigung der Pandemie in mehrerlei Hinsicht gute Karten in der Hand gehabt hat. Erstens war das durchschnittliche Alter der an COVID-19 erkrankten Personen wesentlich jünger als jenes in der Schweiz und nur wenige Senioren waren betroffen.

Zweitens war der zeitliche Ablauf der COVID-19-Pandemie mit dem ersten liechtensteinischen Fall nach der Fasnacht und dem Funkensonntag sowie das frühe Erlassen von Massnahmen schon mit dem zweiten aufgetretenen Fall günstig.

Drittens hat eine frühe Bildung eines interdisziplinären Pandemiestabs sowie ein enges Zusammenwirken der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen eine proaktive und umfassende Bewältigung der Pandemie ermöglicht. Viertens konnte mit geeigneten Massnahmen (Masken, Hygiene, Besuchseinschränkung, social distancing, Testung) ein Befall in einem grossen Altersheim im Keim erstickt werden. Fünftens war mit einer sehr guten Testverfügbarkeit für COVID-19-Tests ein weiterer anerkannter Erfolgsfaktor für die Bewältigung der COVID-19-Pandemie gegeben. Letztlich und vor allem, hatte sich die Bevölkerung sehr gut an die angeordneten Massnahmen gehalten, was die wichtigste Grundlage für die erfolgreiche Bewältigung dieser ersten Welle der COVID-19-Pandemie war.

Ausblick

Mit der vorliegenden Studie liegen nun Daten vor, die zeigen, dass die COVID-19-Pandemie in Liechtenstein wirksam bekämpft werden konnte, so dass rund zehn Wochen keine neuen Fälle aufgetreten sind. Die Studie ermöglicht es, eine Einschätzung der Wirksamkeit von Massnahmen vorzunehmen. Damit kann die Studie für die zukünftigen Herausforderungen in der Bekämpfung der Pandemie gute Entscheidungsgrundlagen liefern.

Eine präliminäre Version des Studienberichts kann unter http://dx.doi.org/10.13140/RG.2.2.16513.48486 eingesehen werden.