1975 – Mehrheit soll Mehrheit bleiben

Wohl jedes Wahlsystem hat Tücken. Auch beim Volksrechtegesetz, das 1973 mit der Verankerung des Kandidaten-Proporzsystems in Kraft gesetzt wurde, gab es gleich zu Beginn gewisse Vorbehalte von Parteistrategen. Die FBP ergriff zwei Jahre später die Initiative mit dem Motto «Mehrheit soll Mehrheit bleiben». Allerdings scheiterte die Bürgerpartei 1975 bei einer Volksabstimmung mit dem Versuch, eine sogenannte «Mehrheitsklausel» in die Verfassung aufzunehmen.

Text: Günther Meier

Die Landtagswahlen 2025 gingen nach dem gleichen System über die Bühne, wie im Volksrechtegesetz von 1973 festgelegt. Im Oberland wurden 15 Mandate vergeben, im kleineren Wahlkreis Unterland nur zehn Mandate. Aufgrund der unterschiedlichen Anzahl von Mandaten, die in den beiden Wahlkreisen vergeben werden, verfügen nicht alle Wahlberechtigten über die gleiche Stimmkraft. Dies sollte sich ändern, war die FBP-Fraktion schon im Herbst 2023 der Auffassung und reichte eine Initiative zur Abänderung des Volksrechtegesetzes ein. Die Vorprüfung der Gesetzesinitiative durch die Regierung ergab keine Einwände gegen das Begehren. Doch erschien der Zeitraum zur Umsetzung bis zu den Wahlen 2025 etwas knapp. Die FBP kündigte aber an, die Wahlrechtsreform in der neuen Legislaturperiode weiterzuverfolgen.

1975 – Versuch einer Mehrheitsklausel
Schon vor 50 Jahren ist die Fortschrittliche Bürgerpartei aktiv geworden, damit jene Partei, die am meisten Wählerstimmen auf sich vereinigt, auch die Mehrheit der Mandate im Landtag erhalten sollte. Die Verfassungsinitiative wurde unter dem Stichwort «Mehrheitsklausel» leidenschaftlich diskutiert, wobei sich zwischen der FBP und der Vaterländischen Union (VU) grosse Unterschiede offenbarten. Die VU wollte keinesfalls etwas am Wahlsystem ändern, die FBP äusserte ihre Sorge, es könnte eine Partei ohne die absolute Mehrheit der Wählerstimmen aufgrund der gesonderten Zuteilung der Mandate in den beiden Wahlkreisen die Mehrheit der Mandate erhalten.

Im Abstimmungskampf führte die FBP eine Reihe von Gründen an, die für die Einführung einer Mehrheitsklausel in der Verfassung sprechen würden. Ein Ja für die Mehrheitsklausel
sei auch ein Ja für Demokratie und Proporz. Die Einteilung des Landes in die zwei historischen Wahlkreise werde mit der Mehrheitsklausel nicht angetastet. Proporz heisse stärkemässige Vertretung der Parteien im Landtag: «Eine Partei, die mehr Stimmen erhält, muss auch mehr Mandate erhalten als eine Partei mit weniger Stimmen.» Dies könne aber nur eine Mehrheitsklausel in der Verfassung sichern.

Die FBP führte als warnendes Beispiel an, was ohne Mehrheitsklausel passieren könnte. Bei den Wahlen 1974 habe die FBP im ganzen Land total 2176 Wähler hinter sich gebracht, die VU und die Christlich-soziale Partei (CSP) zusammen nur 2142: Trotzdem hätte die VU als Wahlverliererin 8 Mandate im 15-köpfigen Landtag erhalten, wenn nur vier Wähler im Oberland anders gestimmt hätten.

Trotz massiver Propaganda zugunsten der Mehrheitsklausel drang die FBP bei den Wählern nicht durch. Bei der Abstimmung am 30. November 1975 stimmten 1965 Stimmberechtigte für die Mehrheitsklausel, 1987 lehnten das Begehren ab. In den fünf Gemeinden Vaduz, Planken, Mauren, Schellenberg und Gamprin gab es eine Zustimmung zur Mehrheitsklausel, die anderen sechs Gemeinden sprachen sich mehrheitlich dagegen aus. Das «Liechtensteiner Volksblatt» setzte über den Bericht der Abstimmung den Titel «Mangel in unserem Wahlrecht bleibt bestehen». Für die FBP war klar, dass es eine reine parteipolitische Abstimmung gewesen sei. Man frage sich, was die VU mit ihrem Kampf gegen die Mehrheitsklausel gewonnen habe. Die Antwort: Sollte der Mangel bestehen bleiben und es trete bei einer Landtagswahl das Szenario ein, dass die Stimmenminderheit zur Mehrheitspartei im Landtag werde, trage dies zweifellos zu einer weiteren Verhärtung der politischen Szene bei – und zu einer Verbitterung jener Wählergruppen, die davon betroffen seien.

1981 – Mehrheitsklausel scheitert erneut
Dieser Fall ist bereits kurze Zeit nach der Abstimmung eingetreten. Bei den Wahlen 1978 verlor die FBP ihre Mandatsmehrheit im Landtag, die sie vier Jahre vorher von der VU zurückgeholt hatte. Die FBP erhielt im ganzen Land einen Stimmenanteil von 50,85 Prozent, die VU 49,15 Prozent der Parteistimmen, womit die Bürgerpartei die eigentliche Wahlsiegerin war. Bei der Mandatsverteilung in den zwei Wahlkreisen drehten sich jedoch die Mehrheitsverhältnisse: Die VU erhielt 8 Sitze im Landtag, die FBP musste sich mit 7 Mandaten zufriedengeben.

Nach diesem Wahlergebnis, das die Befürchtungen der FBP über einen Verlust an Sitzen trotz Mehrheit an Parteistimmen bestätigte, nahm die Bürgerpartei nochmals einen Anlauf für eine Mehrheitsklausel. In der Landtagssitzung vom 5. Juli 1979, als der Vorstoss der FBP erstmals beraten wurde, rechnete FBP-Fraktionssprecher Peter Marxer vor, dass eine Partei mit nur 45,7 Prozent Wähleranteil die Mehrheit in Landtag und Regierung erringen könnte. Das sei eine Unverhältnismässigkeit, die den Sinn des Proporzsystems ins Gegenteil verkehre. Die VU hielt in der hitzigen Debatte dagegen, war nicht für eine neue Regelung der Mehrheitsfrage zu gewinnen, sondern deutete an, die vorgeschlagene Mehrheitsklausel könnte zur Abschaffung der beiden historischen Wahlkreise Ober- und Unterland führen. Wie verhärtet die Positionen der FBP und VU in dieser Frage waren, lässt sich anhand des Votums von FBP-Fraktionssprecher Peter Marxer in Richtung VU erahnen: «Geben Sie es doch zu, Sie wollen gar keine gerechten Spielregeln, sondern sie wollen ein Tombolasystem, bei dem nicht die Mehrheit des Volkes, sondern der Zufall regiert, von dem sie sich auch in Zukunft wahltaktische Vorteile versprechen.»

Die Volksabstimmung über die zweite FBP-Mehrheitsklausel fand am 10. Mai 1981 statt. Bei einer Stimmbeteiligung von beinahe 90 Prozent legten 2127 Männer ein Ja in die Urne, 2387 stimmten jedoch dagegen. Im Unterschied zur knappen Ablehnung im Jahr 1975 war diesmal der Anteil der Nein-Stimmen bedeutend grösser. Was war der Grund dafür? Das «Liechtensteiner Volksblatt» erklärte in einem Kommentar nach dem Abstimmungssonntag, die VU habe es wohl viel besser verstanden, ihre Anhänger geschlossen hinter sich zu versammeln.

FBP will doppeltes Pukelsheim-Verfahren
Rund 50 Jahre nach der ersten Abstimmung über eine Mehrheitsklausel steht das Wahlsystem wieder zur Diskussion. In der Begründung ihrer Gesetzesinitiative weist die FBP auf die unterschiedliche Stimmkraft der Wählerschaft in den Wahlkreisen Ober- und Unterland hin. Während die Wählerinnen und Wähler im Unterland zehn Parteistimmen zur Verfügung hätten, verfügten die Bürgerinnen und Bürger im Oberland über 15 Parteistimmen. «Dies bedeutet», betont die FBP, «dass bei der Zusammenzählung der Parteistimmen drei Unterländer die gleiche Stimmenanzahl erreichen können wie zwei Oberländer.»

Dies führt laut FBP-Begründung zu einer «verzerrten Abbildung des Wählerwillens», was behoben werden sollte. Abhilfe soll das doppelte Pukelsheimverfahren schaffen, ein Verfahren bei der Ermittlung von Parlamentssitzen anhand der Parteistimmen, das auf einen Mathematiker mit dem Namen Friedrich Pukelsheim zurückgeht. Das von diesem entwickelte Verfahren wurde zuerst im Kanton Zürich angewendet, findet inzwischen aber auch Anwendung in verschiedenen anderen Schweizer Kantonen. Dies weist darauf hin, dass sich nicht nur die FBP in Liechtenstein an den Mängeln des geltenden Systems stört, sondern dass auch bei Wahlen im Ausland eine möglichst genaue Verteilung der Parlamentssitze gemäss dem Wählerwillen angestrebt wird.

Die Gesetzesinitiative der FBP sieht die Anwendung des Pukelsheim-Verfahrens für Gemeindewahlen und Landtagswahlen vor. Bei den Landtagswahlen soll zuerst das Wahlergebnis auf das ganze Land berechnet werden, womit jede Wählerin und jeder Wähler gleich stark gewichtet wird. Erst in einem zweiten Schritt werden dann die Mandate in den beiden ungleich grossen Wahlkreisen zugeteilt.

Für Diskussionen ist also in den nächsten zwei bis drei Jahren gesorgt, wenn die FBP ihre Initiative weiterverfolgt. Dabei könnte es nicht beim Pukelsheim-Verfahren allein bleiben. Die Diskussionen könnten auch auf andere Bereiche ausgeweitet werden, wie die Regierung in ihrer Stellungnahme zur Initiative andeutet: Schaffung eines Einheitswahlkreises, Senkung oder Abschaffung der Sperrklausel, eine andere Verteilung der Mandate auf Oberland und Unterland oder gar eine Erhöhung der Mandatszahl.