Postulat zur Fertigstellung des parteiübergreifenden Psychiatriekonzeptes

Das Konzept wurde heute von 13 Abgeordneten parteiübergreifend eingereicht (VU, FBP, FL und DpL) und wird im Dezember-Landtag behandelt. Gemäss Postulatstext bitten die Postulanten die Regierung, dass das Konzept bis zur Postulatsbeantwortung vorliegt. Es handelt sich um ein Postulat zur Fertigstellung des Psychiatriekonzepts und Umsetzung von Sofortmassnahmen zur Abfederung der teils angespannten Versorgungslage in Liechtenstein.

Gestützt auf Artikel 44 der Geschäftsordnung des Landtags vom 19. Dezember 2012, Landesgesetzblatt 2013 Nr. 9, reichen die unterzeichneten Abgeordneten nachstehendes Postulat ein und stellen den Antrag, der Landtag wolle beschliessen: Die Regierung wird eingeladen zu prüfen und aufzuzeigen, wie es möglich wird, dass das Psychiatriekonzept finalisiert wird und Sofortmassnahmen zur Abfederung der teils angespannten psychiatrischen Versorgungslage in Liechtenstein – wo notwendig – ergriffen werden können.

Begründung

Seit einigen Jahren zeigen Erhebungen in unseren Nachbarländern eine stetige Zunahme von psychischen Störungen und Erkrankungen bei Erwachsenen und im Speziellen bei Kindern und Jugendlichen. Während der Corona-Pandemie hat sich die Situation zugespitzt und eine Entlastung ist bis heute nicht eingetreten. Gemäss UNICEF-Studie zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen in der Schweiz und Liechtenstein aus dem Jahr 2021 kämpfen ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen mit psychischen Problemen. Jeder 11. Jugendliche hat schon versucht, sich das Leben zu nehmen. Laut Bundesamt für Statistik aus der Schweiz (BFS) und der Nachbarländer ist ein beispielloser Anstieg von Hospitalisierungen aufgrund psychischer Störungen zu verzeichnen. Dies bestätigt nun auch die Schweizer Gesundheitsbefragung 2022.

Sie zeigt, dass es seit 2017 einen Anstieg bei den psychischen Belastungen gegeben hat. Betroffene sind vor allem die 15- bis 24-jährigen und speziell junge Frauen. So stieg die Zahl der Hospitalisierungen aufgrund psychischer Störungen bei jungen Frauen zwischen 10 und 24 Jahren um 26 Prozent, bei Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren sogar um beispiellose 52 Prozent. Zum ersten Mal waren psychische Störungen die häufigste Ursache für Spitaleinweisungen dieser Altersgruppen. Im September 2023 tauschten sich Organisationen der Zivilgesellschaft mit Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Bundeshaus über die psychische Gesundheit von jungen Menschen aus. Im Zentrum standen der dringende Handlungsbedarf und Lösungsmöglichkeiten.

Massiver Anstieg von psychischen
Störungen auch in Liechtenstein

Auch in Liechtenstein ist aufgrund multifaktorieller Ursachen ein massiver Anstieg von psychischen Störungen vor allem bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu verzeichnen. Liechtensteiner Fachpersonen aus dem psychiatrischen, psychotherapeutischen und medizinischen Bereich schlagen seit längerem Alarm und melden eine deutliche Zunahme an Angstzuständen, Essstörungen, Suizidgedanken und Depressionen. In zahlreichen Fällen auch verbunden mit der Symptomatik von «Schulabsentismus». In den letzten beiden Jahren wurde vermehrt von Eltern berichtet, dass sie aufgrund von Suizidalität, selbstverletzendem Verhalten und anderer psychiatrischer Akutfälle ihrer Kinder hohen Belastungssituationen ausgesetzt waren. Solche Akutsituationen erfordern rasche Hilfe für betroffene Eltern und Kinder, um weitere schwerwiegende psychische Folgeerkrankungen und die Gefahr einer Chronifizierung bei allen Beteiligten zu verhindern und somit auch hohe Folgekosten.

Unabhängig von der Situation im Bereich Kinder und Jugendpsychiatrie äussern sich auch vermehrt Arbeitgebende, dass psychische Belastungen oft der Grund für Krankmeldungen und Arbeitsausfälle sind. Dies ist ursächlich auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, deren Behebung und Prävention eine grosse (gesamtgesellschaftliche) Herausforderung darstellt. Fallzahlen über in Liechtenstein wohnhafte Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die derzeit in Liechtenstein, Schweiz oder Österreich in ambulanter, teilstationärer oder stationärer psychologischer/psychiatrischer Behandlung/Abklärung sind, inkl. auf deren Wartelistenbefindlichen Liechtensteiner Kinder, Jugendliche und Erwachsene, fehlen derzeit. Zahlen, Daten und Fakten sind der Schlüssel zur Initiierung von effektiven Massnahmen und sind deshalb unbedingt zu ermitteln. Sollten bisherige Methoden für die Ermittlung nicht ausreichend gewesen sein, könnte geprüft werden, wie es in Zukunft möglich ist, diese Zahlen zu erheben.

Obwohl mit der Schaffung einer zusätzlichen Stelle in der Psychotherapie für Kinder und Jugendliche eine leichte Entlastung in den letzten Monaten spürbar war (Kleine Anfrage – Oktober 2023 ), besteht nach wie vor ein allgemeiner Mangel an ambulanten Therapieplätzen. Dies aufgrund der Tatsache, dass die verfügbaren Kapazitäten nicht voll ausgeschöpft werden können. Für Kinder und Jugendliche gibt es derzeit zwei Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie 9 Kinder- und Jugendpsychologen, wovon zwei keine OKP-Zulassung haben. Es stellt sich den Postulanten die Frage, weshalb die Kapazitäten nicht voll ausgeschöpft werden können und welche Veränderungen nötig wären, um mehr Therapiemöglichkeiten zu schaffen. Auch stellt sich die Frage, wie auf Inzidenztrends psychischer Erkrankungen bzw. auf Schwankungen in der Prävalenz von bestimmten psychischen Störungen und Erkrankungen schneller reagiert werden kann. Laut Aussagen von Psycholog*innen sind derzeit vermehrt Essstörungen und selbstverletzendes Verhalten zu beobachten und daher sind jene Psychologinnen, welche auf diese Störungen spezialisiert sind, sehr viel mehr ausgelastet als andere. Auch zeigt sich, dass im Bereich der von Autismus- Spektrum-Störung (ASS) betroffenen Menschen eine Zunahme zu verzeichnen ist und ein Mangel an fachlichen Beratungsstellen herrscht. Aktuell gibt es für Betroffene keine regionale Anlaufstelle mit einem kostenlosen Beratungsangebot. Ebenso gibt es keine Autismus- Abklärung, die von der Grundversicherung gedeckt ist, ausser die Regierung erlässt mit Verordnung Bestimmungen über die Vergütung gemäss Art. 18 Abs. 4 KVB. Für die Konsultation eines Facharztes in Chur braucht es die Zusatzversicherung «freie Arztwahl». Für ASS-Abklärungen im sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) in Winterthur oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Zürich braucht es Kostengutsprachen der Krankenkasse auf Anfrage des behandelnden Arztes. Dabei ist zu erwähnen, dass das SPZ derzeit aufgrund der hohen Auslastung keine ausserkantonalen Anfragen mehr annimmt.

Aktuell fehlt es an einer niederschwelligen psychiatrischen Notfallbetreuung mit professionell organisiertem und vernetztem Case-Management im Bereich der kinder- und jugendpsychiatrischen Pflege sowie Hilfs- und Überbrückungsangebote für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen und Erkrankungen in Akutsituationen, für jene auf Wartelisten und für Anschlusslösungen nach einem Klinikaufenthalt. Vereinzelt bestehende Angebote sind nicht ausreichend vernetzt und werden nicht weiterempfohlen, sind unübersichtlich bzw. werden nicht zusammenfassend aufgelistet. Ein möglicher Grund hierfür scheint unter anderem auch ein finanzieller und ideologischer Interessenskonflikt zwischen den verschiedenen Anbietern und Leistungsträgern zu bestehen. Gänzlich fehlt es derzeit an ambulanten Gruppen- (Verhaltens-) Therapieangeboten wie z. B. Skills-Training für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), aber auch Selbstwert- und Sozialkompetenztraining für Kinder und Jugendliche. Die nächstgelegenen Gruppen sind derzeit nur in St. Gallen oder Chur und somit für eine wöchentliche Teilnahme ungeeignet. Bestehende Angebote in der näheren Umgebung mussten aufgrund des grossen Bedarfs an Einzeltherapien aufgelöst werden. Dabei belegen Studien eine vergleichbare Wirksamkeit von Einzel- und Gruppenpsychotherapien.

Gruppentherapieangebote könnten die angespannte Versorgungslage somit vorübergehend verbessern. Wegen des erhöhten Bedarfs fehlt es zudem an teilstationären Therapieplätzen (Tagesklinik in der näheren Umgebung) sowie an stationären Therapieplätzen im Ausland. Psychiatrische Kliniken für Kinder und Jugendliche berichten nach wie vor von Wartezeiten von bis zu einem halben Jahr und dass Anfragen aus Liechtenstein aufgrund des vom Kanton verhängten «ausserkantonalen Aufnahmestopps» hintenangestellt werden müssen (Kinder und Jugendpsychiatrie Chur). Erschwerend kommt hinzu, dass aktuell nur eine Klinik im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie vertraglich verpflichtet ist, Liechtensteiner gleichstellend aufzunehmen (Clienia Littenheid). Ebenfalls bestehen Verträge mit der Psychiatrie St. Gallen sowie den Psychiatrischen Diensten Graubünden, jedoch ohne die entsprechende Gleichstellungs-Klausel. Auch deckt der Vertrag mit der Psychiatrie St. Gallen nur die Erwachsenenpsychiatrie, jedoch nicht die Kinder- und Jugendpsychiatrie, für welche die Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste St. Gallen zuständig sind. Es stellt sich den Postulanten die Frage, wie der aktuelle Stand bezüglich vertraglich festgelegter teilstationärer und stationärer Versorgung im Kanton Graubünden und St. Gallen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie tatsächlich aussieht und inwieweit dies offiziell kommuniziert ist.

Auf Anfrage der OSKJ, der Ombudsstelle für Kinder und Jugendliche, im April 2022 zu oben geschildertem Notstand, verwies das Ministerium für Gesellschaft auf die laufende Psychiatrieplanung und informierte darüber, dass momentan von einem Kernteam unter der Leitung des Ministeriums für Gesellschaft ein Psychiatriekonzept erstellt werde. Man werde dabei ein besonderes Augenmerk auf die Bereiche kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung und Notfallmanagement legen. Hier stellt sich die Frage, ob diesem Kernteam Fachpersonen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie angehören. Aus Sicht der Postulant*innen ist dies zwingend notwendig. Um den vorgesehenen Einbezug aller betroffenen Institutionen zu gewährleisten, erhielten im Mai 2023 Fachpersonen im Rahmen einer Konsultationsrunde Einblick in den Konzeptentwurf. Laut Antwort zu Frage 2 der Kleinen Anfrage im September 2023 wird das Psychiatriekonzept auf Grundlage der zahlreichen Rückmeldungen, die bei der Konsultation des Entwurfs eingegangen sind, aktuell grundlegend überarbeitet. Das Gesundheitsdepartement des Kanton St. Gallen hat im August 2023 ein Konzept für die Adoleszenten-Psychiatrie veröffentlicht. Auch gibt es in den Kantonen St. Gallen und Graubünden, wie auch in Vorarlberg und dem süddeutschen Raum, viele erfolgreiche Institutionen, mit denen man sich grenzüberschreitend vernetzen könnte. Wir möchten die Regierung bitten, die Expertise und allenfalls auch Angebote dieser regionalen Player hinzuzuziehen und zu prüfen, wie weit diese in das liechtensteinische Psychiatriekonzept mit einbezogen werden können und sollen.

Zusammenhängend mit der alarmierenden Zunahme von psychischen Störungen und Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen gehören neben den hierfür benötigten Massnahmen auch zwingend Präventions- und Sensibilisierungskampagnen bezüglich Psychischer Gesundheit sowie Kampagnen zur Bekanntmachung der angebotenen psychologischen Dienste in das Psychiatriekonzept.

Postulanten ersuchen die Regierung Psychiatriekonzept
bis zur Postulatsbeantwortung vorzulegen

Die Postulanten ersuchen die Regierung, dem Landtag das Psychiatriekonzept bis spätestens zur Postulatsbeantwortung vorzulegen und darin zu erläutern, wer für Aufbau, Organisation und Umsetzung der Psychiatriestrukturen – insbesondere in Bezug auf die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung – zuständig sein wird, bis wann eine Übersicht über die einzelnen kurz-/mittel-/langfristigen Massnahmen in Prävention und Intervention vorliegen wird (sofern nicht bereits im Konzept enthalten), wie der Zeitplan für die Umsetzung der jeweiligen Massnahmen aussieht und wie die Vernetzung der einzelnen präventiven und interventiven Massnahmen/Dienste/Anlaufstellen organisiert, koordiniert und kommuniziert wird. Zudem wird die Regierung eingeladen zu erläutern, wie die Zeit bis zur Umsetzung dieser Massnahmen überbrückt wird bzw. wie bestehende Strukturen übergangsweise ausgebaut und besser vernetzt werden, um den Jugendlichen die Hilfe zu geben, die sie jetzt benötigen.

Der Regierung wird zudem dringend empfohlen, dass das Experten-/Kernteam, welches das Psychiatriekonzept derzeit überarbeitet sowie das Team welches für Aufbau, Organisation und Umsetzung des Psychiatriekonzeptes zuständig sein wird, nicht nur Kenntnisse über das Liechtensteiner Gesundheits- und Sozialwesen verfügt, sondern mindestens eine Person des Teams auch über Erfahrungen in der Planung und im Aufbau (Umsetzung) eines Psychiatriekonzeptes mit dazugehörigen kinder- und jugendpsychiatrischen Diensten verfügt. Es wäre sinnvoll, dies in Bezug auf die Zusammensetzung des Experten-/Kernteams zu berücksichtigen und gegebenenfalls die Zusammensetzung entsprechend anzupassen.

Vaduz, 6. November 2023

Die Postulanten