Liechtensteins Regierungssystem: Ein Sonderfall?

Demokratische Systeme sind nicht alle gleich. Im Gegenteil, es gibt eine erstaunliche Vielfalt an demokratischen Systemen. In gewissen Demokratien wird die Regierung vom Volk gewählt. Man nennt solche demokratischen Regierungssysteme auch präsidentielle Systeme. Das bekannteste Beispiel dafür sind die USA, die ihre Exekutive, also den Präsidenten, alle vier Jahre vom Volk wählen lassen. In anderen Demokratien wird die Regierung hingegen vom Parlament gewählt. Diese Systeme werden «parlamentarisch» genannt. Die meisten westeuropäischen Staaten sind parlamentarische Systeme. In diesen ist die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängig. Verliert das Parlament das Vertrauen in die Regierung, kann es sie durch ein Misstrauensvotum absetzen. Nicht so in präsidentiellen Systemen, also etwa den USA. Zwar gibt es dort das Impeachment-Verfahren, das in jüngerer Vergangenheit auch immer öfter angestrengt wird. Aber ein Impeachment ist nur bei einer Straftat möglich. Das amerikanische Parlament (Congress) kann dem Präsidenten bei fehlendem Vertrauen nicht einfach die Unterstützung entziehen, was auch daran liegt, dass der Präsident eben nicht vom Parlament, sondern vom Volk gewählt wurde. Weiter gibt es Demokratien, die eine «doppelköpfige» Exekutive haben: Einen Präsidenten, der vom Volk gewählt wird (und der auch das Staatsoberhaupt ist), aber gleichzeitig auch eine Regierung, die vom Parlament gewählt wird. Frankreich ist ein Beispiel für solch ein «semi-präsidentielles System». Daneben gibt es Staaten, in denen nicht ein gewählter, sondern ein erblicher Monarch das Staatsoberhaupt ist. In acht westeuropäischen Staaten ist dies der Fall, etwa im Vereinigten Königreich (UK) oder in mehreren skandinavischen Staaten. Meist beschränkt sich die Funktion dieser erblichen Staatsoberhäupter in der Praxis auf eine repräsentativ-zeremonielle Rolle. Das Vereinigte Königreich beispielsweise ist verfassungsrechtlich zwar eine konstitutionelle Erbmonarchie, in der Praxis aber eine parlamentarische Monarchie. Der König hat de facto deutlich weniger Machtbefugnisse als der französische Staatspräsident.

Wo ist Liechtensteins Regierungssystem einzuordnen? 

Zunächst erkennt man parlamentarische Elemente: Die Regierung wird vom Landtag gewählt und kann bei fehlendem Vertrauen von Letzterem abgesetzt werden. Also so wie in parlamentarischen Systemen, etwa im Vereinigten Königreich oder in Deutschland, aber nicht wie in den USA. Die Liechtensteiner Regierung ist aber nicht nur dem Landtag, sondern auch dem Fürsten gegenüber verantwortlich. Der Fürst, das Staatsoberhaupt Liechtensteins, hat überdies weitreichende Kompetenzen, viel weitreichender als etwa jene von König Charles III. Diesbezüglich erkennen wir – funktionell gesprochen – Parallelen zu Frankreichs semi-präsidentiellem System. Das gewählte Staatsoberhaupt Frankreichs, le Président, hat ebenfalls weitreichende Machtbefugnisse. Er bestellt beispielsweise den Regierungschef und kann das Parlament auflösen. Auch der Fürst ernennt die Regierung (und nicht nur den Regierungschef) und kann den Landtag auflösen, wenn erhebliche Gründe vorliegen.   

Bloss, ein klassisches semi-präsidentielles Regierungssystem ist Liechtenstein eben auch nicht. Zunächst ist zu sagen, dass, wie in anderen politischen Systemen auch, die Klassifikation Liechtensteins zu den oben genannten Typen ein Stück weit von der Rolleninterpretation des Staatsoberhauptes abhängig ist. Wird diese Rolle zurückhaltend ausgeübt, funktioniert Liechtenstein mehr wie ein parlamentarisches Regierungssystem, ansonsten eher wie ein semi-präsidentielles System. Eine Klassifikation Lichtensteins wird durch weitere, anderswo fehlende Elemente zusätzlich erschwert. Die Regierung Liechtensteins ist beispielsweise eine Kollegialregierung mit gleichberechtigten Mitgliedern, was es – mit Ausnahme der Schweiz – anderswo nicht gibt. Bei der politischen Entscheidungsfindung kommt überdies auch das Stimmvolk mit den zahlreichen direkten Mitspracherechten – Volksinitiative, Referendum etc. – hinzu. Auch dieses direktdemokratische Element fehlt auf nationaler Ebene in vielen anderen Staaten. Kurzum, das Regierungssystem Liechtensteins ist in der Tat sehr komplex und ein Sonderfall!