Die wohl essenziellste Institution für die Menschen in Liechtenstein

Ingrid Frommelt und Barbara Frommelt im Interview, Bild: Tatjana Schnalzger

Die Familienhilfe Liechtenstein ist 2013 durch Anfusion von fünf Ortsfamilienhilfe-Vereinen an den Verband Liechtensteinischer Familienhilfen entstanden. Sie ist heute der grösste professionelle Anbieter im Bereich der ambulanten Betreuung und Pflege im Fürstentum Liechtenstein. Präsidentin Dr. Ingrid Frommelt und Geschäftsführerin Barbara Frommelt geben einen Einblick in das vielseitige und bedeutende Aufgaben- und Leistungsportfolio.

Interview: Johannes Kaiser

Was zeichnet die Familienhilfe Liechtenstein heute aus? 

Ingrid Frommelt: Die Familienhilfe Liechtenstein hat sich in den vergangenen zehn Jahren als nicht mehr wegzudenkende, äusserst professionelle Leistungserbringerin im ambulanten Liechtensteiner Pflege- und Betreuungsbereich etabliert. Dabei stellen wir fest, dass die Leistungsnachfrage durch Menschen jeden Alters über die letzten Jahre kontinuierlich gestiegen ist und die qualitativen Anforderungen an unsere Leistungen infolge stets komplexer werdender Pflege- und Betreuungssituationen laufend zunehmen.  Auch auf dem Sektor der Ausbildung – Berufsbilder AGS, FaGe und dipl. Pflegefachpersonen HF – ist die Familienhilfe sehr aktiv und ein verlässlicher Partner. Überdies engagieren sich viele Ehrenamtliche für die Familienhilfe Liechtenstein als Mahlzeitenzustellerinnen und -zusteller und helfen bei verschiedenen Anlässen zum Wohle unserer Klienten mit. Mit ihrem Expertenwissen ist die Familienhilfe Liechtenstein darüber hinaus in verschiedenen Fachgremien im liechtensteinischen Gesundheits- und Sozialbereich vertreten. 

Mit welchen Zahlen, Daten und Fakten kann die Leistungsfähigkeit der Familienhilfe Liechtenstein dargestellt werden?

Barbara Frommelt: Bis Ende Juli haben wir für das Jahr 2023 bei unseren rund 1450 Klienten bereits 116‘300 Leistungsstunden abgerechnet – davon entfallen 30‘500 auf die Spitex, 85‘800 gehören in den Bereich Betreuung/unterstützende Hauswirtschaft. Diese Leistungsstunden werden von rund 210 Mitarbeitenden direkt bei den Klienten erbracht. Für die nicht verrechenbaren Arbeiten der Bedarfsabklärungen, die Planung der Leistungen – mit den Einzelleistungen des Leistungskatalogs aus der Leistungsvereinbarung mit Krankenkassen, Land und Gemeinden –, Administration, Finanzen und Ausbildung arbeiten weitere 20 Mitarbeitende. 

Prävention ist ein Schlüsselbegriff in der gesundheitspolitischen Dienstleistung der Familienhilfe Liechtenstein. Was heisst es genau, präventiv zu handeln und zu wirken?

Barbara Frommelt: Prävention ist ein grosser und wichtiger Teil unserer täglichen Arbeit! Sie beginnt bereits bei der detaillierten Abklärung des Betreuungs- und Pflegebedarfs vor dem ersten Einsatz. Denn oftmals sind spezialisierte Pflegeleistungen, Leistungen der Betreuung und unterstützenden Hauswirtschaft sowie die Zustellung von Mahlzeiten gefragt. Diesbezüglich ist das «systemische Casemanagement» unabdingbar. Ein wichtiger Präventionsaspekt ist sicher auch der regelmässige Kontakt mit den Fachpersonen der Spitex und Betreuung, welche Veränderungen frühzeitig erkennen und entsprechende Massnahmen – in Zusammenarbeit mit Klienten, Angehörigen und/oder dem Hausarzt – einleiten. 

Welche Unterstützung kann die Familienhilfe Liechtenstein bei Überlastung der Pflegesituation oder bei Warten auf einen stationären Eintritt anbieten?

Ingrid Frommelt: Für eine gelingende ambulante Pflege und Betreuung ist ein funktionierendes soziales Netzwerk von grosser Bedeutung. Selbstredend ist daher der Einbezug von Angehörigen oder von Bezugspersonen der Klienten bereits bei der Bedarfsabklärung durch unsere Care-Manager unerlässlich. Die Familienhilfe Liechtenstein bietet heute bei Bedarf auf den individuellen Fall abgestimmte Unterstützungs- und Entlastungsdienste für die pflegenden Angehörigen sowie Bezugspersonen an, dies um die Betreuungsstruktur so stabil wie möglich zu erhalten. 

Zu diesen Entlastungsdiensten kommen noch die Überbrückungsangebote der Familienhilfe Liechtenstein hinzu, wenn Klienten auf ein Bett im Krankenhaus, in einer Spezialklinik, im Pflegeheim oder in einer Rehabilitationsstation warten müssen oder frühzeitig aus einer stationären Einrichtung entlassen werden und einer Nachbetreuung und -pflege bedürfen. 

Essenziell ist sicherlich auch die fachkompetente Beratung der Menschen, die unterstützungsbedürftig werden. Es geht ja nicht um sie alleine, sondern auch um die Angehörigen.

Barbara Frommelt: Ja, in der Tat. Eine fachkompetente Beratung, wenn es um die Unterstützung und Pflege im ambulanten Bereich geht, ist unabdingbar. Unsere Fachpersonen des Case Managements übernehmen die Abklärungen des individuellen Unterstützungsbedarfs in Zusammenarbeit mit dem privaten und professionellen Umfeld. Sie sind für die Koordination und Sicherstellung der bedarfsgerechten Pflege sowie Betreuung aller involvierter Leistungserbringer, Fachstellen und Institutionen zuständig. Des Weiteren bieten sie Beratungsgespräche für Klientinnen und Klienten sowie Angehörige über die verschiedenen Unterstützungs- und Entlastungsangebote im Bereich Wohnen, Organisation verschiedener Hilfsmittel und finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten.

Ausschlaggebend für eine gelingende Pflege und Betreuung ist die professionelle Leistungserbringung, bei der die Beratung und der Einbezug der Klienten selbstverständlich ist. Diese Aufgabe übernehmen in der täglichen Arbeit die zuständigen Pflege- und Betreuungsfachpersonen.

 

In welcher Beziehung stehen die Familienhilfe Lichtenstein und die Fachstelle für häusliche Betreuung und Pflege? 

Ingrid Frommelt: Die Familienhilfe Liechtenstein und die Fachstelle für häusliche Betreuung und Pflege haben komplett unterschiedliche Zwecke und Aufträge. Zu den Kernaufgaben der Familienhilfe Liechtenstein zählt die bedarfsgerechte Erbringung von Leistungen im ambulanten Betreuungs- und Pflegebereich durch ausgewiesenes Fachpersonal. Die Fachstelle für häusliche Betreuung und Pflege, kurz Fachstelle, erbringt dagegen keinerlei Betreuungs- und Pflegeleistungen.

Vielmehr ist es die Aufgabe der Fachstelle, nach dem Eingang eines Antrags auf Betreuungs- und Pflegegeld bei der IV, im Auftrag der IV in jedem einzelnen Fall den durchschnittlichen Bedarf an häuslicher Betreuung und Pflege pro Tag mit einem validierten Leistungskatalog beim Antragssteller zu Hause zu erfassen. Das Ergebnis dieser Abklärung durch die Fachstelle gilt als Basis für die Zuweisung zu einer Leistungsstufe durch die IV. 

Welches sind Vorteile und Gütesiegel des Betreuungs- und Pflegegeld-Modells für die Betroffenen sowie deren Angehörige?

Barbara Frommelt: Es ist das Bedürfnis vieler Menschen, trotz körperlicher und/oder psychischer Einschränkungen so lange wie möglich in ihrem Daheim leben zu dürfen. «Ambulant vor stationär» heisst, dass ambulante Pflegeleistungen und vor allem auch Betreuungsleistungen Vorrang haben, um dem Bedürfnis, zu Hause bleiben zu können, zu entsprechen. Ein Grossteil unserer Klienten ist auf die Leistungen beider Bereiche angewiesen. Diese Leistungen der Spitex und der Betreuung sind aber unterschiedlich finanziert, denn Betreuungsleistungen sind keine KVG-Leistungen. Mit dem Betreuungs- und Pflegegeld erfahren viele Menschen eine Unterstützung, und können die notwendigen Betreuungsleistungen beziehen. 

Es gibt auch Ideen, dieses erfolgreiche Modell der häuslichen Betreuung und Pflege bezüglich der Finanzierung durch eine Pflegeversicherung zu ersetzen. Was ist Ihre Meinung dazu?

Ingrid Frommelt: Nachdem sich das Betreuungs- und Pflegegeld bis heute sehr gut bewährt, erachte ich die Weiterentwicklung des Betreuungs- und Pflegegeldsystems als prioritär und angezeigt. In Anbetracht der sprunghaft ansteigenden generellen Gesundheitskosten und der deshalb zu erwartenden markanten Anhebungen der Prämien für die obligatorische Krankenversicherung wird eine Pflegeversicherung im derzeitigen Umfeld und wohl auch mittelfristig schwer zu realisieren sein. 

Denn bereits heute sind mehr und mehr Menschen auf eine Prämienverbilligung für die  obligatorische Krankenkasse angewiesen.

In welchen Bereichen sollte das System des Betreuungs- und Pflegegelds als bewährtes System – in der Schweiz gilt es gar als Vorbildmodell – Ihrer Erfahrung nach weiterentwickelt werden?

Ingrid Frommelt: Das liechtensteinische Modell des Betreuungs- und Pflegegelds ist ein Erfolgsmodell, um das uns die umliegenden Staaten doch etwas beneiden. Dennoch orte ich auch hierzulande Weiterentwicklungsbedarf bei der heutigen Ausgestaltung des Betreuungs- und Pflegegeldes. Ich denke dabei einerseits an die Notwendigkeit einer moderaten Anpassung der Leistungsstufen infolge des ersatzlosen Wegfalls von niederstufigen Ergänzungsleistungen, die bereits für viele Menschen Präventionseinsätze durch Dritte unbezahlbar gemacht haben. Andererseits denke ich aber auch an die Notwendigkeit der Anhebung der Höhe der Leistungsstufenentschädigung, zumal die Teuerung auch vor dem Bereich der Betreuungs- und Pflegelöhne nicht Halt gemacht hat und sich das Betreuungs- und Pflegegeld analog dieser Lohnentwicklung verändern müsste, um nicht an Attraktivität zu verlieren und damit den Kerngedanken des Betreuungs- und Pflegegelds, nämlich die Stärkung des ambulanten Betreuungs- und Pflegesettings, auszuhebeln. 

Welchen Einfluss hat die demografische Entwicklung auf das Betreuungs- und Pflegegeld?

Ingrid Frommelt: Einen sehr entscheidenden! Obwohl Menschen aller Altersstufen einkommensunabhängig Betreuungs- und Pflegegeld beantragen können, ist dieses Unterstützungsmodell schon allein aufgrund der demographischen Entwicklung essenziell. Mit einer Zunahme der demenziellen Erkrankungen, der psychiatrischen Erkrankungen sowie der palliativen Betreuungs- und Pflegesituationen – um nur einige zu nennen – wird mit einer steten Zunahme von Antragsstellern für das Betreuungs- und Pflegegeld zu rechnen sein; dies aufgrund von Situationen, die in den meisten Fällen nur durch die finanzielle Unterstützung über das Betreuungs- und Pflegegeld zu Hause zu bewältigen sein dürften.