Freie Liste: Stellungnahme zur Vernehmlassung des Religionsgemeinschaftengesetz

 

Die Freie Liste hat ihre Stellungnahme zum Vernehmlassungsbericht der Regierung betreffend die Abänderung der Verfassung und die Schaffung eines Gesetzes über die staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften (Religionsgemeinschaftengesetz; RelGG) sowie die Abänderung weiterer Gesetze eingereicht.

Die Bestrebungen, das Verhältnis von Staat und katholischer Kirche neu zu regeln, laufen nun seit 16 Jahren.

In dieser Zeit hat sich die Freie Liste mehrfach für eine institutionelle Trennung der beiden und eine umfassende Gleichberechtigung aller Religionsgemeinschaften ausgesprochen.

Mit dem Vernehmlassungsbericht liegt nun der dritte grössere Entwurf im Sinne einer Neuregelung vor. Im Dezember 2012 verabschiedete der Landtag ein Religionsgemeinschaftengesetz, welches sich doch deutlich von der aktuellen Vorlage unterschieden hätte. Bekanntlich ist es bis dato nicht in Kraft getreten, weil die dafür notwendigen Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl scheiterten. Vorweg soll also gesagt sein, dass die Freie Liste am vorliegenden Vernehmlassungsbericht ausdrücklich begrüsst, dass er 1) die Idee eines allgemeinen Religionsgesetzes wieder aufnimmt und 2) auf ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl verzichtet.

Die Trennung von Staat und Kirche bildet eine zentrale Forderung im Parteiprogramm der Freien Liste. Es ist ein deutlicher Rückschritt, dass die Zielsetzung einer Trennung bzw. Entflechtung der beiden Institutionen, wie sie 2008 und 2011/12 mit guten Gründen verfolgt worden war, heute nicht weitergeführt wird.

Entscheidungen wie diese gefährden die Religionsfreiheit in Liechtenstein und dürfen nicht unkritisch hingenommen werden. Nachfolgend beziehen wir dementsprechend ausführlich Stellung zur Vernehmlassung und möchten damit einen konstruktiven Beitrag zur angestrebten Neuregelung leisten.

Stellungnahme RelGG der Freien Liste

Anmerkungen zu den einzelnen Punkten:

1) Verfassungsbestimmungen in Art. 37 LV

Es ist breiter Konsens im Staatskirchen- bzw. Religionsrecht, dass es Aufgabe des neuzeitlich-demokratischen Staates ist, die Religionsfreiheit umfassend zu gewährleisten und zu schützen. In dieser Hinsicht modern wurde bereits 1921 in der liechtensteinischen Verfassung festgehalten, dass «die Glaubens- und Gewissensfreiheit […] jedermann gewährleistet» ist. Der gesamte Artikel 37 bleibt gemäss Vernehmlassungsbericht unverändert. Aus nachfolgenden Gründen spricht sich die Freie Liste dafür aus, diesen Entscheid zu überdenken:

Die weniger moderne und exkludierende Verwendung von Sprache in Art. 37 Abs. 1 und der gesamten Verfassung werden wir hier nicht ausführlicher diskutieren, weil es den Rahmen der Stellungnahme sprengen würde. Nichtsdestotrotz wollen wir darauf hinweisen, dass der Artikel im Zuge von weiteren Anpassungen auch in genderneutrale Sprache überführt werden könnte, indem der Begriff «jedermann» etwa durch «alle Menschen» ersetzt wird. Mit einer Anpassung bestünde zudem die Chance, die Religionsfreiheit detailliert auszuführen und in ihren Konkretionen zu benennen. Ein vorbildlicher Vorschlag aus dem Vernehmlassungsbericht von 2008 sah eine umfassende Reformulierung in enger Anlehnung an EMRK 9 vor. Sowohl individuelle und korporative als auch positive und negative Religionsfreiheit wären damit in unserer Verfassung verankert. Durch die zunehmende Pluralisierung und Ausdifferenzierung der religiösen Landschaft in Liechtenstein gewinnt gerade der Aspekt der negativen Religionsfreiheit an Bedeutung. Negative Religions- freiheit bedeutet vereinfacht, dass eine Person frei ist, keiner Religionsgemeinschaft zuzugehören und keine religiöse Weltanschauung zu teilen. Das umfasst auch, dass diese Personen nicht gegen ihren Willen dazu verpflichtet werden dürfen, eine Religionsgemeinschaft (finanziell) zu unterstützen. Mehr dazu weiter unten im Text.

Religionsfreiheit setzt ausserdem voraus, dass der moderne Staat sich selbst als säkular versteht. Der Staat an sich «hat» keine Religion — von der katholischen Kirche als «Staatsreligion» in Liechtenstein zu sprechen, ist deshalb unangemessen. Bedauerlicherweise und im Gegensatz zu den Vorlagen von 2008 und 2011/12 entwickelt der aktuelle Vernehmlassungsbericht das Staatskirchenrecht nicht auf Basis der Religionsfreiheit, sondern beginnt unmittelbar mit den Anerkennungs-verhältnissen. Im Sinne eines säkularen Staates, der die Religionsfreiheit gewährt, haben die Vernehmlassungen von 2008 und 2011/12 konsequenterweise auf Art. 37 Abs. 2 «Die römisch-katholische Kirche ist die Landeskirche […]» verzichtet. Während die aktuelle Vorlage nurmehr von Gleichbehandlung spricht, wurde mit den vorhergehenden Vorschlägen die Parität und rechtliche Gleichstellung von den Religionen angestrebt: Keine Religionsgemeinschaft sollte explizit in der Verfassung genannt werden und keine Kirche länger über Sonderprivilegien verfügen. Stattdessen hätte Art. 37 aus einer umfangreichen Definition der Religionsfreiheit und einem Verweis auf das Religionsgesetz bestanden. An der ersten Lesung im Dezember 2012 haben 19 von 23 anwesende Landtagsabgeordnete dieser Verfassungsänderung zugestimmt. Die zweite Lesung wurde leider nie durchgeführt. Dass die aktuelle Vorlage vor diesem Hintergrund am Verfassungsrang der römisch-katholischen Kirche festhält, ist unverständlich und einem modernen Religionsrecht unwürdig. Der Ehrentitel «Landeskirche» kam 1921 als Kompromisslösung in die Verfassung. Die rechtlichen Konsequenzen daraus sind bis heute nicht restlos geklärt. Nach schweizerischem Rechtsverständnis würde eine Landeskirche entsprechende Gremien, wie etwa einen gewählten Kirchen-Verwaltungsrat oder einen Finanzrat, voraussetzen. Duale Strukturen, die gewisse demokratische Verfahren in der katholischen Kirche verankern würden, wurden in Liechtenstein geschaffen. Ein System, wie es in den meisten Schweizer Kantonen praktiziert wird, lehnt die Regierung im Bericht ab. Rechtlich nicht hinreichend geklärt ist ausserdem auch, ob und inwiefern die «Landeskirche» unmittelbar mit dem Erzbistum Vaduz und dessen Organen identifiziert werden kann — auch wenn die Regierung dies im vorliegenden Bericht tut. Während die Verfassung aus dem Jahr 1921 stammt, wurde das Erzbistum erst 1997, einseitig kirchenrechtlich und ohne staatliche Zustimmung errichtet. Sowohl das Festhalten an einer «Landeskirche» als auch die Identifikation dieser mit dem Erzbistum Vaduz sind also fragwürdig.

Identitäts- und symbolpolitische Argumente für eine römisch-katholische «Landeskirche» beurteilt die Freie Liste als besonders abwegig. Im Vernehmlassungsbericht wird eine Harmonie zwischen katholischer Kirche und dem Land Liechtenstein konstruiert, die nicht der Realität entspricht. Insbesondere seit der Errichtung des Erzbistums Vaduz wurden zahlreiche, schwerwiegende Konflikte zwischen Gesellschaft, Politik und katholischer Kirche ausgetragen. Dieser Kontext findet im Bericht keinerlei Beachtung. Der Vernehmlassungsbericht scheint religionsphänomenologisch kaum informiert; statt auf ehrliche Binnenerfahrungen der verschiedenen Religionsgemeinschaften setzt die Regierung hauptsächlich auf rechtliche Abstraktionen und Idealisierung.

Die Freie Liste setzt sich für eine offene, diverse Gesellschaft und einen modernen, säkularen Staat ein. Die dafür notwendige umfassende Gewährung der Religionsfreiheit kann nicht mit einer privilegierten Landeskirche einhergehen. Eine Sonderstellung der römisch-katholischen Kirche in der Verfassung ist für uns daher nicht tragbar.

2) Zum geplanten Religionsgemeinschaftengesetz (RelGG)

Anerkennungsverhältnisse und Begrifflichkeiten

Die Schaffung eines allgemeinen Religionsgesetzes, das die rechtlichen Verbindungen von Staat und Religionsgemeinschaften regelt, ist grundsätzlich begrüssenswert.

Während alle früheren Vorlagen mit einer zweifachen Struktur von öffentlich-rechtlich anerkannten und privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften ausgekommen sind, erhöht die Regierung die Komplexität mit dem vorliegenden Vorschlag unnötigerweise. Anstatt die Einfachheit und Stringenz der bisherigen Vorlagen zu übernehmen, werden neu drei Stufen errichtet:

  1. Landeskirche qua Verfassung (römisch-katholische Kirche)
  2. Staatlich anerkannte Religionen qua Gesetz (a priori evangelische Kirche und evangelisch-lutherische Kirche)
  3. Privatrechtlich organisierte Religionsgemeinschaften (mit der Möglichkeit unter bestimmten Voraussetzungen eine staatliche Anerkennung zu erlangen)

Der Begriff «staatlich anerkannte Religion» wurde mit der Vernehmlassung von 2011 in die Debatte aufgenommen. Es scheint, als wurde er unreflektiert dem österreichischen Religionsrecht entlehnt, ohne Berücksichtigung des grundlegend anderen Aufbaus von diesem. Die Bezeichnung bietet Anlass für zahlreiche Missverständnisse. In der Medienberichterstattung ist nicht selten zu lesen: «Die römisch-katholische Kirche ist die einzig staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft in Liechtenstein». Aussagen wie diese verleiten zur Annahme, dass alle anderen Religionen nicht vom Staat anerkannt und damit womöglich sogar verboten seien. Was wäre denn sonst das Gegenteil von «staatlich anerkannt»? Zur Wahrung der allgemeinen Religionsfreiheit müssten nach diesem Verständnis alle Religionen a priori staatlich anerkannt sein, sodass jede:r frei nach den eigenen Bekenntnissen leben darf.

Wesentlich präziser ist die Begrifflichkeit im Vernehmlassungsbericht von 2008. Damals wurde zwischen Religionsgemeinschaft mit öffentlich-rechtlichem Status und privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften unterschieden.

Die Freie Liste empfiehlt dringlich, die Begrifflichkeiten in der Vorlage anzupassen und spricht sich für eine zweistufige Struktur ohne «Landeskirche» aus.

Evangelische Kirchen

Es liegt auf der Hand, dass die Regierungsvorlage die beiden grösseren evangelischen Kirchen zu «staatlich anerkannten Religionen» macht. Dieser Schritt ist sowohl für die evangelisch-lutherische Kirche als auch für die evangelische Kirche längst überfällig und hätte bereits vor Jahren vollzogen werden sollen. Am Vernehmlassungsbericht von 2011 wurde unter anderem bemängelt, dass die beiden Kirchen einem Anerkennungs-verfahren unterlegen wären. Dieser Umstand wurde im vorliegenden Bericht dankenswerterweise bereinigt.

Trotzdem entsteht der Eindruck, dass die Verantwortlichen der evangelischen Kirchen nicht ausreichend zu ihrem Selbstverständnis und ihrer Sicht auf das Staatskirchenrecht befragt wurden. Anders als im Bericht von der Regierung suggeriert und von der Öffentlichkeit rezipiert, sind Evangelismus und Katholizismus keine unterschiedlichen Religionen und bilden auch keine unterschiedlichen Religionsgemeinschaften. Römisch-katholische und evangelische Kirchen verfolgen lediglich unterschiedliche Konfessionen innerhalb derselben Religion, nämlich dem Christentum.

Unterschiedliche Konfessionen innerhalb derselben Religion sollen vom Staat gleichbehandelt werden. Eine Abstufung innerhalb der christlichen Religionsgemeinschaft, mit der römisch-katholischen Kirche an der Spitze, ist aus Sicht der Freien Liste nicht tolerierbar.

Muslimische Vereine und Moscheegemeinden

Die muslimischen Vereine und Moscheegemeinden bilden seit geraumer Zeit die grösste nicht-christliche Religionsgemeinschaft in Liechtenstein. Bereits heute schreiben sie ähnlich hohe Mitgliederzahlen wie die evangelisch-lutherische Kirche. Dass sie im Vernehmlassungsbericht nicht ausführlicher beschrieben werden, unterstreicht den unzureichenden Bezug des Berichts auf die faktisch existierenden Religionsgemeinschaften in Liechtenstein. Ob und wie eine Moscheegemeinde die staatliche Anerkennung erlangen könnte, bleibt abstrakt.

Im Sinne der Gleichstellung und Wertschätzung wird die Regierung gebeten, den Sachverhalt der staatlichen Anerkennung von etablierten, nicht-christlichen Glaubensgemeinschaften erneut zu prüfen. Hürden im Anerkennungsprozess sollen mittels konkreter Vorgehensbeschreibung vermindert werden.

Religionsfinanzierung

Die delikate Frage nach der Finanzierung der Religionsgemeinschaften wird im Vernehmlassungsbericht leider nur unbefriedigend gelöst. So etwa sind keine Änderungen auf Gemeinde- und Pfarreiebene vorgesehen. Das bedeutet, dass die gesamten Kosten der katholischen Pfarreien weiterhin aus der allgemeinen Gemeindekasse beglichen werden sollen. Letztlich finanzieren also die Steuerzahler:innen, ob katholisch oder nicht, Personal und Bausubstanz der Kirchengemeinde. Die laufenden Rechnungen pro Jahr betragen rund 10 Millionen Schweizer Franken. Historisch lässt sich die finanzielle Verpflichtung der politischen Gemeinden auf Rechtstitel aus dem 19. Jahrhundert zurückzuführen. Mittlerweile ist sie überholt und grundrechtlich nicht weiter tragbar. Einer Klage beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte würde diese Regelung wohl kaum standhalten.

Die Ablöse der finanziellen Verpflichtung und eine Trennung zwischen politischer Gemeinde und katholischer Pfarrei muss dringend vorangetrieben werden.

Neu vorgesehen sind Direktzahlungen an die staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften, bestehend aus einem Fixbetrag (CHF 20’000.-) und einem variablen Anteil (CHF 1’000.- pro 100 Mitglieder). Die daraus resultierenden Kosten werden aus dem Steuersubstrat beglichen, also mit Geldern aller steuerpflichtigen Personen unabhängig von der weltanschaulichen Orientierung. Wie bereits beschrieben, bedeutet Religionsfreiheit auch, dass jeder Mensch frei über die Zugehörigkeit und Unterstützung einer Institution entscheiden können muss. Insbesondere Konfessionslosen und Angehörigen von privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften wird diese Entscheidungsfreiheit genommen. Die vorgeschlagene Regelung widerspricht zudem unserem Verständnis eines säkulären Staates, der institutionell von der Kirche getrennt ist.

Ab 2008 wurde in allen Entwürfen die Religionsfinanzierung über eine Mandatssteuer vorgeschlagen. Die Steuerzahler:innen könnten damit jährlich selbst entscheiden, welche Institution sie finanziell unterstützen möchten. Zur Wahrung der negativen Religionsfreiheit müsste eine solche Mandatssteuer als echte «Gemeinschaftsteuer» ausgestaltet sein und neben Religionsgemeinschaften auch kulturelle, soziale oder karitative Zwecke als mögliche Begünstigte aufführen. Der Staat tritt hier lediglich als «Dienstleister» auf, übernimmt die Zahlungsabwicklung und unterstützt damit die Einnahmesicherung der Religionsgemeinschaften im Vergleich zur komplett losgelösten, freiwilligen Spendenfinanzierung.

Direktzahlungen an staatlich anerkannte Religions-gemeinschaften sind weder mit der Religionsfreiheit noch mit einem säkulären Staat vereinbar. Die Freie Liste spricht sich betreffend Religionsfinanzierung für eine Mandatssteuer im Sinne einer echten «Gemeinschaftssteuer» aus.

Religionsunterricht an staatlichen Schulen

Das Wissen über die verschiedenen Religionen ist ohne Frage ein wichtiger Bestandteil der Allgemeinbildung und die Vermittlung darüber fällt damit in den Aufgabenbereich der staatlichen Schulen. Holistisch unterrichtet, mit Fokus auf den historischen Kontext und die zugrundeliegende Ethik, fördert das die Akzeptanz, Toleranz und den gegenseitigen Respekt von Schüler:innen. Dem gegenüber erachten wir Glaube und spezifische Glaubensvermittlung als Privatsache.

Konsequenterweise sollen Kirchen und Religionsgemeinschaften insbesondere ihren Sakramentenunterricht (bspw. Erstkommunion und Firmung der röm.- kath. Kirche) ausserhalb der öffentlichen Bildung anbieten.

Die Freie Liste ist überzeugt, dass die holistische Wissensvermittlung zu Religion und Kultur ein wichtiger Bestandteil der öffentlichen Bildung ist. Religiöser Glaube hingegen ist eine private Entscheidung und die Glaubensvermittlung sollte ausserschulisch stattfinden.

Weitere Anmerkungen

Schutz vor spirituellem und sexuellem Missbrauch als Qualitätsmerkmal in Religionsgemeinschaften

Alle Religionsgemeinschaften begleiten spirituelle und existenzielle Bedürfnisse der Menschen und haben deshalb einen tiefgreifenden Einfluss auf das Leben ihrer Mitglieder. Damit einher geht eine hohe Verantwortung in Bezug auf die Wahrung der Würde und Integrität. Die Schaffung eines Gesetzes über die staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften beinhaltet die Chance, entsprechende Schutzmassnahmen für alle Menschen in diesen Gemeinschaften zu verankern und entsprechende Qualitätsstandards zu etablieren. Eine unlängst veröffentlichte Pilotstudie der Universität Zürich zu Missbrauch in der katholischen Kirche unterstreicht die Dringlichkeit der Thematik gerade erneut.

Für die Freie Liste ist es unabdinglich, dass mit dem Religionsgemeinschaftengesetz auch griffige Schutzmassnahmen installiert werden. Der Vernehmlassungsbericht deutet nicht auf ein derartiges Vorhaben hin. Wir bitten die Regierung anhand der nachfolgenden Überlegungen ein Schutzkonzept zu erarbeiten.

 

Qualitätsbereiche

Der aktuelle «State of the Art» der Prävention von spirituellem und sexuellem Machtmissbrauch verweist auf sechs Handlungsräume als Basis für ein umfassendes Schutzkonzept:

  1. Sensibilisierung (Wissensmanagement)

Regelmässige Schulungen sind von Bedeutung, damit Menschen Dynamiken von Machtmissbrauch verstehen und Empathie entwickeln.

  1. Beteiligung (Beteiligungsmanagement)

Wenn Menschen aktiv ermächtigt werden, wird spiritueller und sexueller Machtmissbrauch erheblich erschwert.

  1. Risikogestaltung (Risikomanagement)

Alltagsrisiken können durch Transparenz, Entstigmatisierung und Standards minimiert, während die Schwellen für Manipulation erhöht werden.

  1. Führung (Personalmanagement)

Führungspersonen übernehmen Verantwortung, wenn sie ihre Fürsorgepflicht wahrnehmen, Professionalität einfordern und selbst einlösen.

  1. Meldung (Meldemanagement)

Angstfreie Kritikkultur und ein geschützter Raum, in dem Bedenken oder Vorfälle gemeldet werden können, sind von zentraler Bedeutung.

  1. Aufdeckung (Krisenmanagement)

Vorfällen müssen koordiniert, effektiv und unbefangen geklärt und Krisendynamiken aufgefangen werden.

Wirksamkeit

Um Wirksamkeit zu erreichen, müssen alle Handlungsräume Beachtung finden — erst in Kombination erhöhen sie den Schutz. Dabei ist in der Erarbeitung der Zeitfaktor zu berücksichtigen. Zur Bewältigbarkeit ist es von Vorteil, Etappierungevorzunehmen. Zudem lohnt es sich, die Massnahmen in einem begleiteten und

partizipativen Prozess zu etablieren — unter Einbindung der Mitarbeitenden und Führungspersonen (vgl. Abschnitt Konkretisierung und Begleitung).

Handlungsräume

Die genannten Qualitätsbereiche müssen alltäglich in Werten, Verhalten, Strukturen und Prozessen, also in Handlungsräumen, umgesetzt und konkretisiert werden. Sowohl die Gemeinschaft als solche, wie auch die ihr zugehörigen Individuen sollen nach innen und aussen daran arbeiten. Wichtig ist dabei, dass Massnahmen nicht nur auf Papier bzw. in Konzepten bestehen, sondern wirklich gelebt und somit sichtbar werden. Es geht um eine umfassende und präsente Team-, Führungs- und Organisationskultur.

Konkretisierung nach Reifegrad

Wichtig ist, dass der Schutz vor spirituellem und sexuellem Missbrauch eine Permanentleistung darstellt, die in einem iterativen Entwicklungsprozess wachgehalten wird. Damit können trotz Auflagen massgeschneiderte Lösungen gefunden werden. Im Zentrum steht die Prozessqualität. Die Anerkennung als Religionsgemeinschaft ist somit nicht an einen Fix- oder Idealzustand gebunden, sondern vielmehr an einen laufenden Lern- und Entwicklungsprozess, der begleitet wird. Bei erhöhtem Controlling-Bedarf kann zudem nach einem Maturitätsmodell gearbeitet werden. Die Religionsgemeinschaften sollen angehalten werden, laufend in die Handlungsräume zu investieren und sich transparente Ziele pro Förderperiode zu setzen, um den nächsten Reifegrad zu erreichen. Auch dabei sind individuelle Schwerpunkte möglich, damit die Massnahmen bedarfs- und bedürfnisgerecht ausgerichtet werden können. Jedes Qualitätsmerkmal soll einen vierstufigen Reifegrad durchlaufen:

Indikatoren

Bei Bedarf können Indikatoren entwickelt werden. Zur konkreten Umsetzung und «Good Practice» von Handlungsräumen kann auf die Erfahrungen von Organisationen undReligionsgemeinschaften in benachbarten Ländern zurückgegriffen werden. Fachstellen, die solche Prozesse bereits begleitet haben, bietenzusätzliche Expertise.

Begleitung

Dankenswerterweise wurden wir beim Verfassen dieses Abschnitts von der Fachstelle MachtRaum unterstützt und beraten. Die Fachstelle mit Sitz in der Schweiz ist spezialisiert auf die Prävention von sexueller initiiert erprobt verankert optimiert

Ausbeutung (Vernetzung mit der Fachsstelle Limita), spirituellem Missbrauch und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz. Sie beschäftigt unabhängige, kirchenexterne Präventionsfachleute und bietet massgeschneiderte Schulungen sowie Fach- und Prozessberatungen zu den beschriebenen Handlungsräumen an. Ab 2024 wird MachtRaum im Mandat unter anderem für ein Schweizer Bistum und weitere Pastoralräume oder Kirchen die Prävention gestalten.

Es wäre denkbar, dass auch das Erstellen eines Schutzkonzeptes — mit entsprechenden Auflagen — und/oder die darauffolgende Präventionsarbeit von Religionsgemeinschaften in Liechtenstein durch MachtRaum begleitet wird.

Damit die Grössenordnung der dadurch anfallenden Kosten aktuell abgeschätzt werden kann, kann in Absprache mit der Fachstelle mit einem Pro-Kopf-Beitrag von CHF 1.- pro gläubige Person und Jahr gerechnet werden. Weiter arbeitet MachtRaum nach individuellen Offerten mit Kostendach und folgenden Ansätzen:

Vorhalteleistung/Grundlagen (einmalig) CHF 2‘000.-

MachtReflexion pro Gemeinschaft (Zustands- und Bedarfsanalyse) CHF 6‘000.-

Schulungstag* Ein-Personen-Leitung bis 25 Teilnehmer:innen CHF 2‘400.-

Schulungstag* Co-Leitung bis 25 Teilnehmer:innen CHF 4‘400.-

Beratungsstunde* (inkl. Vor- und Nachbereitung, exkl. Spesen und Wegzeit) CHF 240.-

*inkl. Vor- und Nachbereitung, exkl. Spesen und Wegzeit

Beim Schutz vor Missbrauch mittels qualitativ hochwertiger Präventionsarbeit sollten keine Kosten gescheut werden. Die Aufwände für Erarbeitung, Sicherung und Prüfung von Schutzmassnahmen innerhalb der^Religionsgemeinschaften könnte beispielsweise direkt über die Religionsfinanzierung abgewickelt werden:

Staatlich ankerkannte Religionsgemeinschaften könnten dazu verpflichtet werden, einen prozentualen Teil des ihnen zustehenden Beitrags aus Steuergeldern für Schutzmassnahmen zur Verfügung zu stellen bzw.aufzuwenden.

Schlussbemerkungen

Wie eingangs erwähnt, ist es erfreulich, dass die Schaffung eines allgemeinen Religionsgemeinschaftengesetzes mit dieser Vorlage erneut vorangetrieben wird. Positiv hervorzuheben ist dabei, dass auf den Abschluss eines Konkordats mit dem Heiligen Stuhl verzichtet wird.

Überraschend und entgegen den Vorlagen von 2008 und 2011/12 soll die römisch-katholische Kirche Verfassungsrang als «Landeskirche» behalten (Art. 37 LV) und damit weiterhin privilegiert bleiben. Der Anspruch auf echte Parität und rechtliche Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften wird mit dem aktuellen Gesetzesvorschlag nicht erreicht. Anstelle einer Reform hin zu einem modernen Religionsverfassungsrechts verharren wir im aktuellen, unbefriedigenden Zustand des vorneuzeitlichen Staat-Kirche-Verhältnisses. Die geplanten Direktzahlungen an die sogenannten «staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften» verstärken diesen Eindruck. Bedauerlicherweise wurde das Modell einer Mandatssteuer nicht wieder aufgegriffen. Die Chance auf eine zeitgemässe Form der Religionsfinanzierung, welche der positiven und negativen Religionsfreiheit (vgl. EMRK 9) gerecht würde, wird damit vertan. Neue Regelungen sind gemäss Bericht nur für die Landesebene vorgesehen, nicht aber für die Gemeinde- bzw. Pfarreiebene.

Ohne Entflechtung der finanziellen und organisatorischen Verstrickung zwischen politischer Gemeinde und katholischer Pfarrei bleiben viele Aspekte des Verhältnisses von Staat und Kirche ungelöst, insbesondere die Finanzierungsfrage.

Die staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften ist an gewisse Rechte und Pflichten gebunden. Als Institutionen, die spirituelle und existenzielle Bedürfnisse der Menschen begleiten, nehmen die Religionsgemeinschaften tiefgreifenden Einfluss auf das Leben ihrer Mitglieder und tragen eine hohe Verantwortung in Bezug auf die Wahrung der Würde und Integrität. Die Freie Liste ist der Ansicht, dass der Schutz vor spirituellem und sexuellem Missbrauch als verpflichtendes Kriterium für eine Anerkennung verankert werden soll. Der Regierung wird dringlich geraten, ein entsprechendes Schutzkonzept und konkrete Massnahmen zu erarbeiten.

Für die Freie Liste

Tatjana As’Ad, Co-Geschäftsstellenleiterin