Wenn wir die Entwicklung unseres Landes in den vergangenen Jahrzehnten betrachten, so fasst eine oft gehörte Aussage diese ziemlich treffend zusammen: «Vom Bauern zum Banker». Oder übersetzt: Von bitterer Armut zu grossem Wohlstand. Seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dürfen wir einen beinahe permanenten wirtschaftlichen Aufschwung erfahren. Es gibt immer weniger Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner, die in ihrem Leben noch beide Seiten kennengelernt haben. Das könnte unmerklich zur fatalen Einschätzung führen, dass Wohlstand im Lande als gegeben und selbstverständlich anzusehen ist. Wir sollten uns tunlichst immer wieder auf jene Werte und Massnahmen besinnen, die den Weg des Erfolges ermöglicht haben.
Eine ganz wesentliche Grundlage für die erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung bildet der Zollanschlussvertrag mit der Schweiz aus dem Jahre 1923. Die Bereitschaft der Schweiz, den Zollanschluss Liechtensteins zu ermöglichen, war nicht das Resultat nationaler Interessen, sondern ein Zeichen von Grossmut vonseiten der Schweiz. So sagte Nationalrat Henri Calame in der Sitzung des Nationalrates vom 21. Dezember 1923: «Die Schweiz verfolgt keine egoistische Absicht, sie hat den Ruf eines Landes vernommen, das kleiner ist als sie selbst, sie hilft einem Lande an der Grenze, das sein Gleichgewicht nur dank unserer Hilfe wiederfinden kann.» Der Zollanschlussvertrag war für Liechtenstein wichtiger als für die Schweiz. Es ist daher mehr als selbstverständlich, dass das Jubiläum 100 Jahre Zollvertrag in Liechtenstein gebührend und umfassend gefeiert wurde. Ganz besonders erfreulich ist aber, dass auch die Schweiz in Bern im Bundeshaus eine Jubiläumsfeier abhielt. Dass der Liechtensteiner Landtag und als Festredner der Landtagspräsident dazu eingeladen wurden, darf als Zeichen grosser Wertschätzung gegenüber unserem Land gewertet werden. Zudem als Zeichen, dass die zwischenstaatliche Partnerschaft auch von der Schweiz als nutzbringend erachtet wird. War Liechtenstein vor 100 Jahren Bittsteller, so kann heute von einer für beide Seiten vorteilhaften Gemeinschaft gesprochen werden.
Geschätzte Festgemeinde
Liechtenstein ist in den vergangenen Jahrzehnten als Staat gewachsen. Visionäre Aussenpolitik hat dazu geführt, dass unsere Souveränität mit den Mitgliedschaften in UNO und EWR weiter gestärkt wurde und Liechtenstein heute in der internationalen Staatengemeinschaft ein angesehenes Mitglied ist. Die Beziehungen werden auf vielen Ebenen gepflegt. So hat unser Land, um nur ein Beispiel zu nennen, seinen festen Platz bei den Konferenzen der deutschsprachigen Staaten, sei es auf Ebene der Staatsoberhäupter, der Regierungen oder der Parlamente. Diese Erfahrungsaustausche mit befreundeten Ländern sind bei der Bewältigung aktueller politischer Herausforderungen sehr hilfreich.
Eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit ist die rasante Entwicklung rund um die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz. Fake News und Desinformation sind heute verbreiteter denn je. Besonders ein Beispiel hat uns vor Augen geführt, dass diese Entwicklung eine bisher nicht gekannte Gefahr für die Demokratie darstellt. Noch nie war Manipulation so einfach und noch nie konnten Falschmeldungen in Sekundenschnelle so breit gestreut werden. Das kann zu Radikalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen führen. Wir werden nicht umhinkommen, zum Schutze der Gesellschaft Regulierungen zu schaffen. Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein. Die Medienkompetenz bei allen Bevölkerungsgruppen zu fördern, ist ein Gebot der Stunde. Es ist essenziell, verlässliche von unseriösen Nachrichten unterscheiden zu können.
Wir müssen ein Zusammenleben in respektvollem Miteinander sichern. Dazu gehört, dass wir Reibungsflächen auch einmal hinter uns lassen können. Ich denke hier an die unterschiedliche Bewertung der von der Corona-Pandemie ausgegangenen Gefahren und der getroffenen Massnahmen. Hinterher sind wir alle besser in der Lage, einzelne Handlungen differenzierter zu beurteilen. Wenn wir uns aber gegenseitig zugestehen, dass alle Personen in jener herausfordernden Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben, so können und sollten wir gemeinsam den Blick nach vorne richten.
Viele neue Aufgaben, die sich zum Teil auch durch den russischen Überfall auf die Ukraine ergeben haben, erfordern unsere uneingeschränkte Aufmerksamkeit. In den kommenden Monaten werden sich Politik, Wirtschaft und Bevölkerung mit vielen Themen auseinandersetzen müssen. Ohne zu gewichten, möchte ich einige der anstehenden Aufgaben ansprechen.
Die Sicherung der Energieversorgung ist von herausragender Bedeutung und muss mit Massnahmen im Lande selbst beginnen. Die Eigenversorgung muss erhöht werden. Politik ist in der Demokratie die Kunst des Machbaren. Es gilt, im Einvernehmen mit der Bevölkerung, wirksame und nachhaltige Konzepte umzusetzen.
Auch im Einvernehmen mit der Bevölkerung muss die Gesundheitsversorgung im Lande geklärt werden. Sich abzeichnende Mehrkosten beim geplanten Landesspital haben dazu geführt, dass die Grundsatzdiskussion, ob wir ein eigenes Spital brauchen, erneut entfacht wurde. Die Abstimmung über einen Zusatzkredit wird somit absehbar zum Plebiszit, ob die Bevölkerung ein Landesspital will oder nicht.
Der Fachkräftemangel ist ein aktuelles Thema, das unsere Wirtschaft ernsthaft fordert. Ursache ist unter anderem der demografische Wandel. Viele Arbeitskräfte aus geburtenstarken Jahrgängen kommen ins Pensionsalter. Gewinner im Wettbewerb werden jene Betriebe sein, die mit attraktiven Arbeitsbedingungen und verlässlicher sozialer Absicherung konkurrenzfähig bleiben. Konkurrenzfähigkeit müssen wir auch dem Staat als Arbeitgeber ermöglichen, wenn wir eine leistungsfähige Landesverwaltung wollen.
Vor dem Klimawandel und seinen Auswirkungen die Augen zu verschliessen wäre verfehlt. Extreme Temperaturschwankungen, wie wir sie gerade in letzter Zeit erfahren haben, schneearme Winter oder weltweit verheerende Sturm- und Feuerschäden zeigen auf, dass die Natur aus den Fugen geraten ist. Wir bringen den Klimawandel auch nicht unter Kontrolle, indem wir mit Fingern auf andere zeigen. Es braucht koordinierte Massnahmen der internationalen Gemeinschaft, auch von uns, um noch weit Schlimmeres zu verhindern.
In aussergewöhnlichem Masse gefordert ist auch das Bildungswesen. Die digitale Revolution mit ihren genialen Innovationen und die Künstliche Intelligenz verändern die Arbeits- und Lebenswelt auf allen Ebenen und in immer kürzeren Schritten. Die Menschen zu befähigen, mit diesem Tempo und den steten Veränderungen Schritt halten zu können, kann nur mit permanenter Anpassung der Lehrinhalte und der Weiterbildungsangebote erreicht werden.
Wir werden uns auch mit innenpolitischen Fragen auseinanderzusetzen haben. Soll die Regierung künftig vom Volk gewählt werden? Entscheidend für oder gegen einen Systemwechsel wird die Frage sein, wie die Bevölkerung mögliche Risiken für die Stabilität unseres Landes beurteilt.
Die Liste der Aufgaben, denen sich die Politik, die Führungskräfte der Wirtschaft aber auch die Bevölkerung stellen müssen, könnte noch weitergeführt werden. Es stehen viele komplexe Themen an. Wir dürfen aber aus gutem Grunde optimistisch sein. Die Resilienz der Menschheit im Allgemeinen und der liechtensteinischen Gesellschaft im Besonderen gegenüber Herausforderungen aller Art ist beeindruckend. An unserem Staatsfeiertag ist die Erkenntnis wichtig, dass wir zwar einen verschwindend kleinen Teil der Menschheit darstellen, aber genauso zu Solidarität verpflichtet sind wie grosse Nationen. Gerade die Jugend unseres Landes ist zu unterstützen, sich bei der Gestaltung der zukünftigen Lebenswelt aktiv und mit Ideenreichtum einzubringen. Wir wollen miteinander sicherstellen, dass auch kommende Generationen in einem behaglichen und prosperierenden Fürstentum Liechtenstein leben können.
Liebe Liechtensteinerinnen, liebe Liechtensteiner
Wir müssen uns immer wieder vertrauensvoll auf unsere Stärken besinnen und diese gemeinsam am Leben erhalten. Liechtenstein soll eine Heimat bleiben, die von einer bildungsfreudigen, strebsamen und füreinander einstehenden Gesellschaft getragen wird. Am heutigen Festtag rufe ich dazu auf, unsere Gemeinschaft zu pflegen. Rücken wir das in den Vordergrund, was uns verbindet und glücklich macht.
Abschliessend bedanke ich mich bei all jenen, die zum guten Gelingen des heutigen Festtages einen Beitrag leisten. Ich wünsche der ganzen Bevölkerung und unseren Gästen von Herzen ein freudvolles Fürstenfest und Gottes Segen.