Gezielte Weiterentwicklung des Pflegegeldes ist angesagt!

V. l. Elisabeth Kaltenbrunner (Fachstellenleiterin), Maria Wolfinger (Fachpflegefrau), Foto: Tatjana Schnalzger

Das Modell der Leistung des Betreuungs- und Pflegegeldes (BPG) für familiäre und externe Unterstützung, damit die Menschen möglichst zu Hause im vertrauten Umfeld alt werden dürfen, besteht nun seit 13 Jahren.  Das Modell hat sich sehr bewährt. Dennoch ist mittlerweile gezielter Anpassungsbedarf gegeben, wie die Leiterin der Fachstelle für häusliche Betreuung und Pflege, Elisabeth Kaltenbrunner, sowie die Pflegefachfrau Maria Wolfinger im Interview ausführen.

Interview: Johannes Kaiser, Landtagsabgeordneter

Die Unterstützungssystematik des Betreuungs- und Pflegegeldes, kurz BPG, gibt es in Liechtenstein nun seit 2010. Wie hat sich dies Modell in den letzten 13 Jahren in der Praxis bewährt?

Elisabeth Kaltenbrunner: Sehr gut. Das Betreuungs- und Pflegegeld ist heute nicht mehr wegzudenken. Mit dieser Form der Unterstützung von Menschen sowie ihren Angehörigen hat die Politik damals einen Meilenstein gesetzt, der es insbesondere der älteren Generation erlaubt, möglichst lange zu Hause zu bleiben – vielfach bis zum Tod, wie es sich fast jeder und jede von uns wünscht. Die Unterstützung durch das BPG erleichtert diesen Menschen die Finanzierung der Pflege und damit die Erfüllung des Heimat- und Herzenswunsches an ihrem Lebensabend.  

Wurden die Erwartungen hinsichtlich einer wirksamen Unterstützung von
Familien in der Pflege und Betreuung erfüllt und halten sie nach 13 Jahren den Bedürfnissen immer noch stand? 

Elisabeth Kaltenbrunner: Betrachtet man die Bezügerzahlen, so ist diese Frage klar mit einem Ja zu beantworten. Es gibt jedoch seit längerem einen spürbaren Ausdruck des Unmutes und Unverständnisses bezüglich der Höhe der Tagessätze, die seit der Einführung des BPG am 1. Januar 2010 nie angepasst wurden. Wenn die Teuerung auch erst in den letzten beiden Jahren nach oben geschnellt ist, sind seit 2010 die Lohnkosten doch beträchtlich gestiegen, und so hat sich der effektive Wert des Betreuungs- und Pflegegeldes für die Betroffenen deutlich vermindert.

Welches sind die vordringlichsten Problemfelder?

Elisabeth Kaltenbrunner: Definitiv Probleme haben die Menschen mit geringem Einkommen. Anspruch auf das Betreuungs- und Pflegegeld gibt es erst ab einem Unterstützungsbedarf von durchschnittlich mehr als einer Stunde pro Tag. Eine negative Entwicklung brachte eine Verordnungsänderung der Regierung per 1. Januar 2022 mit sich.
Bis dahin konnten Bezüger von Ergänzungsleistungen (EL) Rechnungen der Familienhilfen bis zu 4’000 Franken pro Jahr bei der AHV einreichen, welche über die EL zurückerstattet wurden. Leider wurde dieser Passus mit der Begründung, dass es ja das BPG gibt, mittels Verordnungsänderung per 01.01.2022 ersatzlos gestrichen. Dies ohne gleichzeitig die Eintrittsschwelle für das BPG, welches, wie gesagt, bei mindestens einer Stunde pro Tag liegt, zu senken. Das bringt seither die Bezüger von Ergänzungsleistungen, die beispielsweise mit zwei oder drei Stunden pro Woche Unterstützung auskommen, in finanzielle Schwierigkeiten. Sie bekommen jetzt Rechnungen der Familienhilfe nicht mehr rückerstattet und können auch kein BPG beziehen, weil die Eintrittsschwelle nicht erreicht wird. Viele können sich daher die notwendige Unterstützung durch die Familienhilfe nur schwer oder gar nicht mehr leisten.

Wer ist denn genau anspruchsberechtigt?

Maria Wolfinger: Anspruch auf Pflegegeld haben alle betreuungs- und/oder pflegebedürftige Personen jeden Alters mit Wohnsitz in Liechtenstein. Dabei ist zu beachten, dass die Betreuung und Pflege zu Hause stattfindet und der Pflegebedarf länger als drei Monate dauert und – wie von Elisabeth Kaltenbrunner erwähnt – der Unterstützungsbedarf mehr als eine Stunde pro Tag beträgt. 

Wie werden Anträge für das Betreuungs- und Pflegegeld konkret gestellt? 

Maria Wolfinger: Das Anmeldeformular kann auf unserer Homepage www.fachstelle.li oder auch auf jener der AHV heruntergeladen werden. Das ausgefüllte Formular wird bei der AHV eingereicht. Diese erteilt uns dann den Auftrag für die Abklärung vor Ort. Es ist also eine sehr pragmatische und niederschwellige Form der Antragstellung. Bezüglich dieser sehr bürgerfreundlichen und schlanken Beantragungs- und Auszahlungssystematik wird Liechtenstein gerade in der Schweiz als Vorzeigebeispiel herangezogen. Bei entsprechenden Studien der gemeinnützigen Paul Schiller Stiftung erhält die liechtensteinische Fachstelle für Betreuungs- und Pflegegeld im Zusammenspiel mit der AHV die besten Noten, worüber wir uns sehr freuen.

Wie haben sich das Bedürfnis nach sowie die effektive Inanspruchnahme dieser Unterstützung entwickelt?

Elisabeth Kaltenbrunner: Die Bezügerzahlen haben sich von Ende 2010 bis Ende 2022 fast verdreifacht. Dem demografischen Spiegelbild entsprechend wird sich diese stärkere Frequentierung fortsetzen. Das Bedürfnis sowie die Nachfrage – wenn man dies so bezeichnen möchte – sind zunehmend vorhanden. Da die Lebenserwartung immer weiter steigt und mit höherem Alter tendenziell zunehmend Hilfe benötigt wird, werden künftig noch mehr Menschen die Unterstützung in Anspruch nehmen wollen. 

Welche Feedbacks erhalten Sie von Ihrer Klientel? Können die Bedürfnisse und Anliegen der Betreuungs- und Pflegegeld-beanspruchenden Personen vollumfänglich erfüllt werden?

Maria Wolfinger: Die meisten Klienten sind wirklich sehr dankbar für die finanzielle Unterstützung durch das Pflegegeld. Es ermöglicht vielen Menschen bei uns in Liechtenstein, dass sie trotz Pflegebedürftigkeit zu Hause leben können. Es gibt jedoch einige Punkte, die bei den Klienten für Unverständnis sorgen. Dazu zählt vor allem, dass das Pflegegeld nicht ausbezahlt wird, wenn die Klienten im Spital sind. Gerade bei Kindern mit einer Behinderung und bei Menschen mit einer demenziellen Entwicklung bedeuten Spitalaufenthalte, dass die Betreuenden zwar keinen Aufwand für die häusliche Betreuung haben, dafür aber oft einen sehr hohen Aufwand für die Betreuung, die sie selber in den in den Institutionen weiterführen müssen. Diesbezüglich offenbart das Pflegegeld-Modell Defizite, die nicht so häufig vorkommen, sich jedoch vom Ausmass her für die Betroffenen als sehr akut erweisen.

Oft haben die Klienten auch wenig Verständnis dafür, dass sie Nachweise (wie Lohnabrechnungen, Familienhilferechnungen, usw.) über die Verwendung der Vorschusszahlungen im Vorjahr vorgelegen müssen. Wenn sie das aber nicht machen, werden die vorausbezahlten Gelder von der AHV zurückgefordert.

Maria Wolfinger, Foto: Tatjana Schnalzger

Welches sind die Vorteile des BPG-Modells für die Betroffenen sowie deren Angehörige wie auch für die Gesellschaft?

Elisabeth Kaltenbrunner: Die finanzielle Unterstützung der Betreuung zu Hause ist für den Staat zumindest in den unteren Stufen wesentlich günstiger als ein Heimplatz. Die Bezüger haben freie Wahl, von wem sie betreut werden möchten. Es muss dafür aber nachweislich Kosten geben – zum Beispiel für Lohnzahlungen oder Rechnungen von anerkannten Institutionen wie der Familienhilfen, Reinigungsfirmen oder selbstständig Erwerbenden mit einer Gewerbebewilligung im Bereich des Haushalts oder der Betreuung. Wenn Angehörige für ihren Einsatz entlohnt werden, zahlen sie Beiträge in die Sozialwerke und haben auf diese Weise später höhere Leistungen zugute. Schwarzarbeit, beispielweise von ausländischen Betreuerinnen, ist unattraktiv, weil Nachweise über die Verwendung der Gelder erbracht werden müssen. 

Es gibt auch Ideen, dieses erfolgreiche Modell der häuslichen Betreuung und Pflege bezüglich der Finanzierung mit einer Pflegeversicherung zu ersetzen. Was ist Ihre Meinung dazu? 

Elisabeth Kaltenbrunner: Ich habe grosse Bedenken, ob sich wirklich alle Menschen eine solche zusätzliche Versicherung leisten können. Man kann bereits bei den Krankenkassenprämien, die auf einer verpflichtenden Versicherung basieren, sehen, wie viele auf Prämienverbilligung angewiesen sind. Es lohnt sich viel mehr, diese sehr bewährte Modell des Betreuungs- und Pflegegeldes mit einem Drehen an den richtigen Stellschrauben zu optimieren und nach 13 Jahren der Praxiserfahrung zielgenau Weiterentwicklungen vorzunehmen.

In welchen Bereichen sollte das Modell demnach weiterentwickelt werden?

Es sind durch die Politik in den nachstehenden drei essenziellen Thematiken Gesetzesanpassungen zu prüfen, um bedürfnisorientierte Lösungen umzusetzen: 

  • Prüfung einer Rücknahme der Verordnungsänderung bei den Ergänzungsleistungen vom 1. Januar 2021 oder Herabsetzung der Eintrittsschwelle von mindestens einer Stunde pro Tag auf zum Beispiel eine halbe Stunde.
  • Einführung eines Modus‘ für regelmässige Anpassung an die Teuerungs- und Lohnkostenentwicklungen.
  • Ausnahmeregelungen festlegen, in welchen das Betreuungs- und Pflegegeld auch bei stationären Aufenthalten weiter ausgerichtet werden könnte. Zum Beispiel für Kinder und Menschen mit einer schweren Demenz.