«Vom Heuwender zum Treuhänder»

Mag. phil. Jürgen Schremser, Forschungsbeauftragter Geschichte, Liechtenstein-Institut

Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte oder die Statistik bestätigt eindrücklich: Es ist in materieller Hinsicht steil bergauf gegangen in Liechtenstein. Was das mit dem Denken, Fühlen und Handeln, also der Mentalität der Menschen machte und macht, ist bis heute Stoff für eine moralisierende, wertbesetzte Rückbesinnung auf bäuerliche Herkunft.

Arbeitsamkeit, Zusammenhalt und christliche Werte werden hervorgehoben, die Überwindung der ärmlichen Verhältnisse und eines entbehrungsvollen Lebens als Erfolgsgeschichte verbucht. Erst in jüngerer Zeit wuchsen ein Bewusstsein und Wissen um erhebliche Macht- und Statusunterschiede, um Ein- und Ausschlussmechanismen einer dörflichen Gesellschaft, aber auch um die Übernahme bürgerlichliberaler und aufklärerischer Elemente in eine von Tradition und Volksgläubigkeit bestimmte ländliche Welt.

Das Projekt «Agrarverfassung – bäuerliche Mentalitäten» beschäftigt sich mit der Frage, wie eine über Jahrhunderte währende bäuerliche und dörfliche Lebensweise in Liechtenstein in kollektiven Denk- und Handlungsweisen zum Ausdruck kam, wo diese auf Quellenbasis nachvollziehbar sind und inwiefern bäuerliche und dörfliche Prägungen der Menschen über den agrarischen Kontext hinaus, in dem sie verankert waren, fortdauerten. Einem mentalitätshistorischen Zugang der Beschreibung kultureller Ordnungen in Bezug auf die sozialen Beziehungen, Kommunikations- und Wissensformen, die lokalen Machtverhältnisse und geschlechtsbezogenen Rollenmuster wurde bisher auch im Rahmen grösserer Forschungen nur punktuell Beachtung geschenkt.

Die dörfliche Gemeinschaft
Vor 200 Jahren lebten über 90 % der liechtensteinischen Haushalte von der Landwirtschaft. 1812 zählte die Bevölkerung 5’797 Personen. Diese lebten in Dörfern, die erst mit der Dienstinstruktion von 1809 zu politischen Gemeinden im heutigen Sinne geworden waren. Bis dahin waren die Dörfer in erster Linie «Nachpurschaften», also Nutzungsgenossenschaften, in denen die berechtigten Haushalte die Nutzung der gemeinsamen Lebensgrundlagen im und um das Dorf regelten: Wald, Weiden und Wiesen, aber auch die Feldfluren. Im Gegenzug hatten die Nutzungsberechtigten gemeinsam gewisse Pflichten wie Unterhalt von Strassen und Brücken oder andere öffentliche Aufgaben wahrzunehmen. Was heute oft von Gemeindeangestellten übernommen oder an private Dienstleister ausgelagert wird, musste also zu einem grossen Teil von Gemeindemitgliedern selbst besorgt werden. Hinzu kamen soziale Aufgaben wie etwa die
Armenfürsorge, die lange Zeit primär in Gemeindehand war. Sozialversicherungen im heutigen Sinne entstanden abgesehen von ersten Kranken- und Unfallversicherungen erst ab den 1950er-Jahren.

Die bäuerliche Lebenswelt verändert sich
Schon im 19. Jahrhundert hatte sich die Welt auch in Liechtenstein grundlegend gewandelt. Eisenbahn und Dampfschifffahrt brachten ausländische Produkte und verkürzten die Wege der Menschen ins Ausland oder nach Übersee. Der Weinbau ging zurück, die Viehzucht wurde durch staatliche Massnahmen verbessert, Sennerei- und andere
Genossenschaften erlaubten rationelleres Arbeiten. Gleichzeitig konnte der verfügbare Boden die wachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren. 1955 zählte Liechtenstein 1366 Landwirtschaftsbetriebe – 2020 waren es noch 95. Während Bauernhöfe lange Zeit zentraler Bestandteil des dörflichen Ortsbildes waren, sind sie seit dem Aussiedlungsgesetz 1962 und der Vergrösserung der verbleibenden Betriebe sukzessive aus dem Dorf verschwunden. Wo die Ställe standen, ist nun Platz für moderne Bank- und
Bürobauten, in denen die geräusch- und geruchlose Ökonomie des Finanzzentrums Liechtenstein operiert. Dementsprechend ist auch die soziale Leitfigur des Hof und Grund besitzenden Bauern vom smarten Treuhänder abgelöst worden.

Diesen Entwicklungsbogen von der wachsenden Privatisierung und Rationalisierung der Bodennutzung nach 1800 bis zum Verschwinden der Höfe aus den Dörfern nimmt sich das Projekt vor und untersucht grundlegende Lebenseinstellungen, Handlungs- und Denkweisen der ländlichen Gesellschaft in ihrer Beständigkeit bzw. Veränderlichkeit. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, ob sich aufgrund merklicher topographischer, politischer oder gesellschaftlicher Unterschiede zwischen verschiedenen Gemeinden Mentalitätsunterschiede im liechtensteinischen Mikrokosmos feststellen lassen.