Gedanken zum Krieg in der Ukraine

Der russiche Angriffskrieg auf die Ukraine hat Auswirkungen auf die ganze Welt und natürlich auch auf unser Land – und das in mehrfacher Hinsicht: wirtschaftlich, sicherheitspolitisch und energiepolitisch.  

Europa ist aufgewacht: Nur gut zwei Jahrzehnte nach dem Balkankrieg sind wir erneut mit Kriegsmeldungen konfrontiert. Nur wenige haben damit gerechnet, dass Putin seine Drohungen wahr macht und die Ukraine mit einem Krieg überzieht. Viele glaubten an seine Beteuerungen, dass es sich bei den massiven Truppenzusammenzügen lediglich um Militärübungen zusammen mit Belarus handle und dass ein Einfall in die Ukraine eine reine Erfindung des Westens, allen voran der USA, sei. Unmittelbar nach Ende der olympischen Winterspiele in Peking wurde die bittere Wahrheit offenbar.

Die Ukraine ist mit über 605’000 Quadratkilometern das flächenmässig grösste Land Europas, das ausschliesslich im europäischen Raum gelegen ist. Grösser sind lediglich Russland (17’100’000 Quadratkilometer, davon 3’950’000 in Europa), die Türkei (785’000 Quadratkilometer, davon 24’000 in Europa) und Frankreich (645’000 Quadratkilometer, davon 545’000 in Europa). Danach folgen Spanien (505’000 Quadratkilometer), Schweden (450’000 Quadratkilometer), Norwegen (385’000 Quadratkilometer), Deutschland (355’000 Quadratkilometer), Finnland (340’000 Quadratkilometer), Polen (310’000 Quadratkilometer) und Italien (300’000 Quadratkilometer). Russland ist dabei fast viermal so gross wie die Europäische Union.

Auch einwohnermässig ist die Ukraine ein Schwergewicht und mit rund 44 Millionen, vergleichbar mit Spanien. Grösser sind nur Russland (104 Millionen Einwohner im europäischen Raum), Deutschland (85 Millionen), das Vereinigte Königreich (67 Millionen), Frankreich (65 Millionen) und Italien (60 Millionen).

Beim Bruttoinlandsprodukt (BIP), dem Gesamtwert aller Güter, Waren und Dienstleistungen, die während eines Jahres innerhalb eines Landes als Endprodukte produziert werden, relativiert sich sowohl für Russland als auch für die Ukraine deren Grösse und Bedeutung: Russland verzeichnete 2020 ein BIP von rund 1’500 Mia. USD und liegt somit zwischen Italien (rund 1’900 Mia. USD und Spanien (1’300 Mia. USD). Die Ukraine wies 2020 ein BIP von 155 Mia. USD aus, also rund zehnmal geringer als das BIP von Russland. Im Vergleich zu Russland und der Ukraine zeigt sich eine grosse Lücke, wenn man die Stärke der USA (21’500 Mia. USD), Chinas (15’000 Mia. USD) sowie Deutschlands (3’700 Mia. USD) heranzieht.

Das atomare Potenzial
Im Krieg stellt sich unmittelbar die Frage nach der Schlagkraft einer Armee. Zu den Atommächten gehören gemäss Wikipedia Russland, die USA, Grossbritannien, Frankreich und China, ferner Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Über 90 Prozent aller Atomwaffen sind im Besitz Russlands und der USA. 

Während Russland mit rund 6’250 die meisten Atomsprengköpfe sein Eigen nennt, musste die Ukraine darauf verzichten und gab 1996 die letzten der rund 5’000 dort stationierten Atomwaffen an Russland ab – gegen das Versprechen zahlreicher Staaten, dafür einen Schutzstatus zu erhalten. 

Mit dem Budapester Memorandum verpflichteten sich 1994 die USA, Russland, China, Frankreich, Grossbritannien und Deutschland, die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu garantieren, wenn die Ukraine im Gegenzug auf den Besitz von Nuklearwaffen verzichten würde. Gleiches wurde Weissrussland und Kasachstan zugesichert. Dieses Versprechen wurde am 9. Dezember 2009 in einer gemeinsamen Erklärung von den Präsidenten der USA und Russlands, namentlich Obama und Medvedev, erneuert. 

Aus heutiger Sicht geradezu sarkastisch wurden 1996 von den Verteidigungsministern der USA, Russlands und der Ukraine Sonnenblumen in der Ukraine gepflanzt, wo vorher die Atomraketensilos standen. Der US-Verteidigungsminister wird mit den Worten zitiert: «Sonnenblumen statt Raketen in der Erde werden Frieden für künftige Generationen sichern». 

«Am 15. April 2021 drohte der ukrainische Botschafter in Deutschland öffentlich, sein Land müsse aufrüsten – eventuell auch mit Atomwaffen –, um sich gegen Russland zu verteidigen, wenn die Ukraine nicht bald Mitglied der NATO werde» (Quellen: Lars C. Colschen, FAS, Kyiv Post AP, Spiegel).

«Sowohl Russland als auch die Ukraine spielen bei der Versorgung Europas eine zentrale Rolle.»
Karlheinz Ospelt

Die konventionelle Stärke
Für die Stärke der konventionellen Armee lässt sich neben den eigentlichen Zahlen an Flugzeugen, Panzern, anderem Kriegsmaterial und nicht zuletzt der Anzahl Soldaten vor allem die jährliche Rüstungsinvestition als Vergleich heranziehen. Dort zeichnet sich weltweit ein klares Bild ab: Während die USA 2018 rund 650 Mia. USD oder 3,2 Prozent des BIP für das Verteidigungsbudget vorsahen, waren dies bei China 250 Mia. USD oder 1,9 Prozent des BIP und bei Russlands 61 Mia. USD entsprechend 3,0 Prozent des BIP. Damit ist der Verteidigungsetat Russlands 2018 vergleichbar mit Frankreich, Saudi-Arabien und Indien, während das Vereinigte Königreich und Deutschland direkt dahinter mit rund 50 Mia. USD (1,8 bzw. 1,2 Prozent des BIP) aufgelistet werden. (Quelle: Wikipedia) 

Energie und Nahrungsmittel
Sowohl Russland als auch die Ukraine spielen bei der Versorgung Europas eine zentrale Rolle. Während Russland neben Weizen vor allem für seine Gas-, Öl- und Kohlelieferungen bedeutend ist, hat sich die Ukraine als Kornkammer Europas einen Namen gemacht. Beide Länder gelten mit einem Anteil von rund 30 Prozent als die weltweit bedeutendsten Weizenproduzenten. 

Auch die Ausfuhr von Mais, Raps und Gerste sind für Europa, vor allem aber für Afrika von Bedeutung, weshalb der Krieg auch enorme Auswirkungen auf die Versorgung Europas hat. Bekannt wurden inzwischen deutsche Engpässe bei Sonnenblumenöl, weil die Ukraine durch den Krieg beeinträchtigt wird, ihre Exporterzeugnisse zu produzieren und vor allem zu exportieren.

Neben Ausfällen von wichtigen Gütern machen Europa die Flüchtlingsströme zu schaffen. Trotz der hohen Bereitschaft Polens und aller Nachbarstaaten der Ukraine, Flüchtlinge unbürokratisch aufzunehmen und zu unterstützen, wird die schiere Anzahl Europa für viele Jahre beschäftigen.

Die russische Isolation
Der Angriff Russlands hat die Welt verändert. Anlässlich der Abstimmung in der UN-Vollversammlung sah sich Russland völlig isoliert. 141 Staaten nahmen Anfang März eine Resolution an, die Russland zum Ende des Angriffs auf die Ukraine auffordert. Lediglich vier weitere Staaten (Belarus, Syrien, Nordkorea und Eritrea) unterstützten Russland und stimmten gegen die Resolution. Enthaltungen gab es von 35 Staaten. Zu dieser Dringlichkeitssitzung war es gekommen, weil der UNO-Sicherheitsrat handlungsunfähig war, nachdem Russland sein Veto eingelegt und sich China der Stimme enthalten hatte. 

Wie unfähig die Welt und die UNO sind, sich gegen Krieg zur Wehr zu setzen, wenn eine der Vetomächte involviert ist, zeigte sich einmal mehr. Allen Beteuerungen und Bemühungen im Vorfeld zum Trotz, ist offensichtlich, dass der Überfall einer Weltmacht auf einen anderen Staat auch im 21. Jahrhundert nicht durch militärischen Beistand der anderen Staaten verhindert wird. Das militärische Bündnis der NATO, ein Nichtangriffsbündnis, schützt nur seine Partner. Der aktuelle Vorstoss Liechtensteins, in der UNO eine Änderung zu erringen, ist von Bedeutung für die Zukunft.

Für die Ukraine bedeutet die mehrfache Ablehnung des Beitritts zur EU und zur NATO, dass sie heute, wie andere Nachbarländer Russlands, namentlich Moldawien, nicht auf das militärische Einschreiten der Staatengemeinschaft zählen kann.

Solidarität mit der Ukraine
Es ist hingegen bemerkenswert, wie die Ukraine und deren Präsident und Exponenten weltweit Sympathien erlangt haben und dadurch nicht nur finanziell und mit Waffenlieferungen unterstützt werden, sondern auch Russland mit umfangreichen Sanktionen belegt wurde und wird. Trotz der militärischen Übermacht Russlands konnte die Ukraine bislang mit der Unterstützung Europas, der USA, Kanadas, Australiens, Japans und vieler anderer Länder erfolgreich Widerstand leisten. Dennoch: Realistisch betrachtet wird die Ukraine einen hohen Preis bezahlen. Zahlreiche Menschenleben – darunter auch viele Zivilisten –, zerbombte Städte und Infrastrukturen werden zu beklagen sein. Während der Aggressor von den Sanktionen sowie einem wirtschaftlichen und politischen Desaster betroffen ist, wird es für die Ukraine zu einem langen Kampf ums Überleben.

Konsequenzen
Für Europa stellen sich Sicherheitsfragen, die Frage nach funktionierenden Lieferketten in einer viel zu globalisierten Welt und die Frage einer raschen Veränderung der Energieversorgung. Während Liechtenstein sich bei Sicherheitsfragen nur durch Vorstösse wie in der UNO aktiv beteiligen kann, müssen auch wir uns primär darum kümmern, wie die Abhängigkeit bei der Energieversorgung stark reduziert und die Diversifizierung gestärkt werden kann. Der LGV-Gaspreis ist innert Monaten von 2,6 auf 7,9 Rappen pro Kilowattstunde oder um 204 Prozent gestiegen. Heute sind wir von deutschen und somit russischen Gaslieferungen abhängig, die Versorgung mit Elektrizität ist genauso wenig unabhängig und mit der Nahrungsproduktion sähe es in Krisenzeiten sicher nicht weniger bedenklich aus. Glücklicherweise könnten wir für einige Zeit wohl auf die wirtschaftliche Landesvorsorge der Schweiz vertrauen, wozu wir jährlich rund CHF 0.5 Mio. beitragen. Für wichtige Nahrungsmittel gilt das Stichwort Notvorrat. Und nicht zuletzt sind wir mit dem Schweizer Franken und seiner geringeren Inflationsrate zum Vorjahresmonat (2,4%) gegenüber USA (8,5% wie zuletzt in den 80-er Jahren) und Deutschland (7,4%) noch äusserst gut bedient.