Erinnerung von Dr. Andrea Willi an Madeleine K. Albright

Treffen der Aussenministerinnen auf Einladung von Aussenministerin Madeleine K. Albright am 11. September 2000 in New York.

Madeleine Korbel Albright (15. Mai 1937 – 23. März 2022) ging als einflussreiche Politikerin der USA in die Geschichte ein. Als erste Frau übernahm sie 1997 unter Präsident Clinton das Aussenministerium und repräsentierte ihr Land in unverwechselbarer Manier: unnachgiebig, mutig und klug. Meist energisch und – wenn nötig – auch undiplomatisch. Um dann wieder mit Charme, Geist und Witz zu überraschen. Die damalige liechtensteinische Aussenministerin war Dr. Andrea Willi. Sie erinnert sich gerne zurück an Madeleine Albright und bezeichnet sie als eine aussergewöhnliche Frau. 

Im Register der Autobiographie von Madeleine K. Albright 1 aus dem Jahr 2003 befindet sich unter dem Stichwort «Liechtenstein» der Verweis auf Seite 241. Dort lesen wir: «Die Rechte der Frauen waren natürlich etwas, das mir am Herzen lag. Als ich frisch nach New York gekommen war, wollte ich mit den anderen Frauen unter den Ständigen Vertretern bei der UNO ein Netzwerk aufbauen. Damals gab es über 180 Länder in den Vereinten Nationen, und so nahm ich an, dass es ein paar Dutzend Frauen geben werde, die ich zum Gründungsessen einladen konnte. Aber weit gefehlt. Als ich zu diesem Mittagessen in die Wohnung kam, war ein einziger Tisch gedeckt, und es waren nur sechs weitere Länder vertreten: Jamaika, Kanada, Kasachstan, Liechtenstein, die Philippinen und Trinidad-Tobago.»

Direkter Draht zur US-Vertreterin
Madeleine K. Albright war seit Februar 1993 die Ständige Vertreterin der USA bei den Vereinten Nationen in New York. Die Ständige Vertreterin Liechtensteins bei der UNO war seit September 1990 Botschafterin Claudia Fritsche.

An diesem denkwürdigen Mittagessen schlug Madeleine K. Albright ihren Kolleginnen vor, «ein Gremium zu bilden» und sich zu verpflichten, «jederzeit gegenseitig unsere Telefonanrufe entgegenzunehmen». Und sie hält dazu fest: «Diese Verabredung des sofortigen telefonischen Zugangs ärgerte manche männlichen Vertreter, die es unlogisch fanden, dass die Botschafterin von Liechtenstein leichter zur amerikanischen Botschafterin durchkommen sollte als sie. Ich erklärte ihnen, die Lösung sei ganz einfach – sie brauchten nur ihren Posten an Frauen zu übergeben.»

Die Gruppe der Botschafterinnen traf sich einmal im Monat und nannte sich G7. Unter anderem besprachen die Ständigen Vertreterinnen die im September 1995 in Peking geplante vierte Weltfrauenkonferenz und bereiteten ihre jeweiligen Länder auf die Teilnahme vor. Wie vehement sich Madeleine K. Albright in Theorie und Praxis für die Rechte von Frauen – in Peking, in ihrer Zeit als Botschafterin und Aussenministerin, kurz, ihr Leben lang – eingesetzt hat, kommt in ihrer Autobiographie überzeugend zum Ausdruck. Von dieser vierten Weltfrauenkonferenz ging eine Aufbruchsstimmung aus, die jedes Land und jede Teilnehmerin, auch mich, mitgerissen hat.

Weltfrauenkonferenz als Meilenstein
An der Konferenz in Peking nahmen für Liechtenstein teil: Botschafterin Claudia Fritsche, Emma Brogle für die Kommission für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Christel Hilti-Kaufmann und Veronika Marxer als NGO-Vertreterinnen, und ich selbst als Delegationsleiterin und seit 1993 zuständige Regierungsrätin unter anderem für die Ressorts Äusseres, Familie und Gleichberechtigung. Der für die Konferenz erstellte Aktionsplan Liechtensteins sah sieben Ziele vor, die Ende 1996 alle verwirklicht sein sollten: die gesetzliche Gleichstellung im Bereich des Landesbürgerrechts und der Sozialversicherung, der Beitritt zum UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, die Einrichtung eines Gleichstellungsbüros (die Stabsstelle Chancengleichheit wurde 2016 sang- und klanglos als «Fachbereich Chancengleichheit» in das Amt für Soziale Dienste integriert), die Frauenförderung in der Landesverwaltung, die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Verwirklichung der Gleichberechtigung auf Gesetzesebene. Alle gesetzten Ziele wurden gemäss Zeitplan erreicht. Das Gleichstellungsgesetz trat 1999 in Kraft. Die vierte Weltfrauenkonferenz wurde im Rückblick gesehen für Liechtenstein ein Meilenstein in der Durchsetzung gleicher Rechte von Frauen und Männern. Auf die Ankündigung der fünften Weltfrauen-
konferenz warten wir seither vergeblich.

Erste Aussenministerin der USA
Am 5. Dezember 1996 nominierte Präsident Bill Clinton Madeleine K. Albright zur ersten Aussenministerin der Vereinigten Staaten. Die Aussenministerin handelte wieder getreu ihrem Prinzip: «Nach meiner Ernennung zur Aussenministerin gründete ich mit meinen neuen Amtskolleginnen den nächsten Club, der immerhin schon doppelt so gross war. Wir firmierten unter ‹die fürchterlichen Vierzehn› und verabredeten, jederzeit füreinander erreichbar zu sein. Wenn sich dann Aussenminister grosser Länder bei mir darüber beklagten, dass sie nicht so leicht zu mir durchdrangen wie die Aussenministerin von Barbados oder Liechtenstein, antwortete ich, sie sollten einfach einer Frau ihren Platz überlassen. Danach beschwerte sich niemand mehr.»

Unvergessliche Treffen
Viermal habe ich an den legendären DinnerTreffen der Aussenministerinnen auf Einladung von Aussenministerin Madeleine K. Albright teilgenommen: am 26. September 1997, am 23. September 1998, am 23. September 1999 und am 11. September 2000, damals zählten wir 13 Frauen. Unsere Treffen standen immer unter dem Siegel der Vertraulichkeit und sind unvergesslich. Die Amtszeit von Madeleine K. Albright endete am 20. Januar 2001, meine am 3. April 2001. Der einschneidende Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 hatte die Verschiebung der 56. Generalversammlung vom September auf den November zur Folge. Auf Einladung der schwedischen Aussenministerin Anna Lindh 3 trafen sich die damaligen Aussenministerinnen, noch unter dem Schock dieses Ereignisses, am 12. November 2001 zu ihrem traditionellen Dinner. Auch die zwei ehemaligen Kolleginnen, Madeleine und Andrea, wurden dazu eingeladen, insgesamt waren wir 16 neue und ehemalige Aussenministerinnen.

Für Verständnis geworben
Das Versprechen, telefonisch immer erreichbar zu sein, hat Madeleine K. Albright mir gegenüber wahr gemacht. Am 15. Juni 2000 empfing sie mich und meine Delegation im US-Aussenministerium in Washington zu einer Aussprache. In jenem Jahr war Liechtensteins Finanzplatz im Zusammenhang mit Vorwürfen des «schädlichen Steuerwettbewerbs» international auf eine Liste gesetzt worden und schwer unter Druck geraten. Ich konnte die entsprechende Ausgangslage für Liechtenstein darlegen und für Verständnis werben.

Treffen der Aussenministerinnen auf Einladung von Aussenministerin Anna Lindh am 12. November 2001 in New York.

Geradlinigkeit und Mut, Konsequenz und Beharrlichkeit, gegenseitiger Respekt, Begegnung auf Augenhöhe, Frauenrechte sind Menschenrechte – solche Prinzipien hat Madeleine K. Albright vertreten, gelebt und ihren Kolleginnen vermittelt. Ihre Memoiren beeindrucken durch erfrischende Menschenkenntnis und ausgeprägte Beobachtungsgabe. Sie zeugen von grossem Verantwortungsgefühl und bedingungslosem Einsatz für ihr Amt. Ihre Analysen überzeugen in ihrer Aufrichtigkeit und Treffsicherheit. Ihr Humor ist köstlich. Anlässlich der Veröffentlichung ihres Buchs «Faschismus: Eine Warnung» im Jahr 2018 führte sie in einem Interview 4 aus, dass es Faschismus auch innerhalb demokratischer Systeme gibt: «Der Faschismus wirkt innerhalb eines Systems. Es ist der Weg, die Demokratie und demokratische Institutionen zu untergraben, die Presse als Volksfeind und Fremde oder Migranten als Schuldige für die jeweilige schlechte wirtschaftliche Situation in den Ländern darzustellen. Man setzt auf den Angstfaktor, nicht auf den Hoffnungsfaktor.»

Brillant und warmherzig
Heute bedaure ich, dass ich Madeleine K. Albright in den letzten Jahren nicht angerufen und sie zu uns nach Liechtenstein eingeladen habe. Bekanntlich war sie unermüdlich unterwegs, in Europa und öfter auch in ihrem Geburtsland Tschechien. Eindrücklich beschreibt sie in ihrer zweiten Autobiographie aus dem Jahr 2020 ihre Familienreise mit ihren Enkeln im Jahr 2015 nach Prag. Ihre Zeilen sprühen vor Leben und ihre Aktivitäten weltweit beschreibt sie enthusiastisch. Anlässlich der Gedächtnisfeier am 5. November 2021 für Colin Powell habe ich sie zum letzten Mal live via CNN erlebt. Sie hat eine berührende Abschiedsrede gehalten, brillant und warmherzig, wie es ihrer Haltung und ihrem Stil entsprach. Colin Powell hatte ihr bei ihrem letzten Treffen geraten, vorsichtig zu sein bei jedem Schritt und beim Treppensteigen: «We can almost hear a familiar voice asking us, no, commanding us, to stop feeling sad, to turn our days once again from the past to the future and to get on with the nation’s business, one making the absolute most of our own days on earth, one step at a time. To that command we can only reply: yes, Sir!»

Persönliche Widmung von Madeleine K. Albright an Andrea Willi.
Arbeitstreffen mit Aussenministerin Madeleine K. Albright im US-Aussenministerium am 15. Juni 2000 in Washington.

Madeleine K. Albright
1937 in Prag geboren, Emigration ihrer Familie 1948 in die USA, Studium der Politik, Rechts- und Staatswissenschaften, 1993 – 1996 Ständige Vertreterin der USA bei der UNO New York, 1997 – 2001 Aussenministerin der USA, 2022 gestorben in Washington.

Andrea Willi
Dr. phil., 1993 – 2001 Mitglied der Regierung des Fürstentums Liechtenstein (Ressorts Äusseres, Kultur und Sport, Familie und Gleichberechtigung), 1991 – 1993 Botschafterin bei der EFTA und UNO in Genf, 1987 – 1991 diplomatische Mitarbeiterin im liechtensteinischen Amt für Auswärtige Angelegenheiten.