Den Tiefsinn nutzen und der Krankheit entgegenwirken

Mitglieder des Stiftungsrats: Marc Risch, Michaela Risch und Clemens Laternser (v. l.). Auf dem Bild fehlt Wolfram Müssner.

Mit dem neuen Jahr nahm die Stiftung TIEFSINN mit Sitz in Triesenberg ihre Arbeit auf. Sie wurde aus dem Clinicum Alpinum auf Gaflei verselbständigt und setzt sich dafür ein, dass psychische Erkrankungen früher und damit erfolgversprechender behandelt werden. Davon profitiert neben dem Patienten auch die Allgemeinheit. Denn jeder investierte Franken spart langfristig vier Franken an volkwirtschaftlichen Kosten ein.

«Zweck der Stiftung ist es, einen nachhaltigen, gesellschaftlichen oder individualmedizinischen Beitrag bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen zu leisten», heisst es in den Statuten der Stiftung TIEFSINN. Der Name ist so gewählt, da Tiefsinn eine der positiv-psychologischen Deutungen des Depressionsbegriffs darstellt und der Tiefsinn gemäss den Stiftungsräten eine in der therapeutischen Arbeit wichtige Ressource darstellt. Liegt diese Ressource aufgrund einer psychischen Erkrankung brach, soll sie wieder zugänglich gemacht werden. Die moderne Behandlung psychischer Erkrankungen stelle einen Dreiklang aus sprachbezogenen-psychotherapeutischen Verfahren, nicht-sprachbezogenen ästhetischen Therapieverfahren inklusive Bewegungstherapien und einer individualisierten pharmakologischen Behandlung dar.

Breite Palette an Erkrankungen
Damit dies besser als bisher gelingen und vielen Menschen langanhaltendes psychisches Leid erspart werden kann, sind gerade im ambulanten, aber auch im stationären Bereich bessere Strukturen nötig, vor allem hinsichtlich Personal- und Platzressourcen. Im Fokus hat die Stiftung die sogenannten affektiven Krankheiten wie Depressionen, Angsterkrankungen, Panikerkrankungen und Zwänge. Ebenso dazu gehören Traumafolgestörungen, Störungen der Impulskontrolle, ADHS und auch Suchterkrankungen, die gehäuft begleitend auftreten Aber auch der Prävention und der Psychoedukation räumt die Stiftung TIEFSINN einen hohen Stellenwert ein. Auf dass die kommenden Generationen mental gesünder altern.  

«Jeder Fünfte erkrankt einmal im Leben psychisch»

Die Stiftung TIEFSINN hat sich grosse Ziele gesetzt, welche die Verantwortlichen mit ebenso grossem Engagement verfolgen. Die Stiftungsräte Clemens Laternser, Wolfram Müssner und Marc Risch sowie die Stiftungsratspräsidentin und Geschäftsführerin Michaela Risch geben Auskunft.

Wie lassen sich die Stiftung TIEFSINN und ihr Zweck in einigen Sätzen beschreiben bzw. zusammenfassen?
Michaela Risch:
Menschen, die psychisch erkrankt sind, und auch deren Angehörige haben häufig keine Stimme und finden deshalb nicht das Gehör und die Hilfen, die sie so dringend benötigen. Sie sind oft grössten Stressbelastungen ausgesetzt und leiden doch still im Dunkelfeld der Gesellschaft. Die Stiftung TIEFSINN will bei dieser Problematik ansetzen und die Lebenssituation für die Erkrankten selbst, aber auch für deren Partner, Kinder und Eltern verbessern. 

Wolfram Müssner: Wir tun dies über direkte Hilfen, gleichzeitig aber auch indirekt, indem wir die Stimme für Mental-Health Themen erheben und uns damit aktiv in den medizinischen und gesellschaftspolitischen Dialog einbringen. 

Was hat den Ausschlag gegeben, dass Sie zur Tat geschritten sind und am 1. Januar die Stiftung gegründet haben? Welche Missstände wollen Sie konkret beseitigen oder zumindest einer besseren Situation zuführen?
Clemens Laternser:
Die Behandlungsstrukturen sind weltweit, überregional und regional unzureichend. Die Wartezeiten für ambulante, teilstationäre und stationäre Behandlungsplätze sind unerträglich lang und treiben viele Betroffene in einen chronischen Krankheitsverlauf. Die Spezialisierung in der psychiatrischen Versorgung hinkt im Vergleich zur körpermedizinischen Spezialisierung deutlich hinterher. Wir müssen jetzt handeln.

Wie werden Sie vorgehen bzw. was trägt die Stiftung ganz konkret zu einem Ausweg aus dem Dilemma in der Behandlung von affektiven Erkrankungen bei?
Marc Risch: Es sind verrückte Zeiten, in denen wir leben. Psychisch erkrankte Menschen und ihr Umfeld leiden besonders – wie ausgeführt oft im Stillen – aus Angst vor Stigmatisierung, sozialer Ausgrenzung und aus Scham. Die Stiftung TIEFSINN will in diesem Zusammenhang helfen, vermitteln, informieren und damit entstigmatisieren – Schritt für Schritt, geduldig, aber mit einer Kraft, die Menschen mit psychischer Beeinträchtigung und ihr Umfeld eben nicht mehr aufbringen können. Wir müssen von einem rein kostengetriebenen Denken in einen Dialog über «qualitätsbereinigte Lebensjahre», sogenannte «quality adjusted life years», kommen. Das heisst, dass die Krankheitsbelastung über eine Lebensspanne bei stetig steigender Lebenserwartung nicht zu, sondern abnehmen soll. 

Die Stiftung TIEFSINN wird dabei in Härtefällen direkte finanzielle und ideelle Hilfe leisten, vor allem dann, wenn notwendige Behandlungen für Patientinnen und Patienten nicht oder nicht rechtzeitig zugänglich sind. Wir wollen aber auch öffentlich sehr aktiv in Erscheinung treten und durch Vortragstätigkeiten in einer verständlichen Sprache, durch Fachbeiträge in deutschsprachigen Medien und durch Impulsvorträge internationaler Spezialisten informieren sowie aufklären. 

Um welche Erkrankungen bzw. Erkrankungen welcher Art handelt es sich?
Marc Risch:
Zu den affektiven Erkrankungen gehören Angststörungen, Panik- und Zwangserkrankungen sowie Depressionen. Das Risiko, einmal im Leben an einer dieser Erkrankungen zu leiden, liegt bei 20 Prozent. Das heisst, dass jeder Fünfte von uns einmal im Leben davon betroffen sein wird, am häufigsten von einer Depression. Wir gehen davon aus, dass aktuell weltweit rund zehn Prozent aller Menschen an einer Affekterkrankung leiden. Bezogen auf Liechtenstein müssen wir davon ausgehen, dass von rund 40’000 Einwohnerinnen und Einwohnern derzeit bis zu 4‘000 Personen schwerwiegend erkrankt sind und in Behandlung gehören. Nur sehen wir unserem Nachbarn halt nicht an, wie sein seelisches Befinden gerade ist. Umso unhaltbarer sind Wartezeiten für Behandlungsplätze von mehreren Wochen oder gar Monaten.

Hat die Anzahl diese Erkrankungen in den vergangenen Jahren zugenommen? Falls ja: Woran liegt das?
Michaela Risch:
Die Weltgesundheitsorganisation, kurz WHO, und die Weltbank gingen bisher davon aus, dass die unipolare Depression im Jahr 2030 die häufigste Erkrankung und Todesursache sein und die Herz-Kreislauferkrankungen ablösen wird. Durch die SarsCov2-Pandemie, den Krieg in der Ukraine und die damit einhergehende weltweite Bedrohungslage wird dieser Zeitpunkt sogar noch früher eintreten.. Dabei muss man wissen, dass sich die jährlichen Kosten durch nicht oder zu spät behandelte psychische Erkrankungen gemäss derselben Studie auf eine Billion Dollar belaufen. 

Wolfram Müssner: Deshalb lohnen sich Investitionen in Beratungs-, Hilfs- und Therapiestrukturen nachhaltig: Jeder investierte Franken spart langfristig 4 Franken an volkswirtschaftlichen Kosten ein. Auch unsere sehr kostenbewusste Gesundheits- und Sozialpolitik sollte das endlich akzeptieren und handeln.

Welche Rolle spielt dabei das Clinicum Alpinum?
Marc Risch:
Im Clinicum Alpinum sind wir leider regelmässig mit diesen Problemen konfrontiert, also mit Menschen, denen eine rasche Behandlung aus Kostengründen verwehrt wird. Wir haben in der medizinischen Versorgung seit Jahren zunehmend mit unnötigen administrativen und bürokratischen Hürden zu kämpfen, teilweise auch mit Unverständnis und leider oft sogar mit Ignoranz den Bedürfnissen psychisch erkrankter Menschen gegenüber. Wir haben deshalb die Stiftung TIEFSINN gegründet, um Lösungen zu entwickeln und anbieten zu können.

Woran wird sich die Stiftung auch finanziell beteiligen bzw. für welche Projekte schüttet sie Gelder aus?
Clemens Laternser:
Sehr wichtig ist natürlich die Hilfe bei konkreten Einzelfällen, wenn eine dringend notwendige Behandlung für Patientinnen und Patienten aus finanziellen oder auch anderen Gründen nicht zugänglich ist. Darüber hinaus besteht bereits eine enge Zusammenarbeit mit SOS-Kinderdorf Liechtenstein. Gemeinsam übernehmen wir die stationären Aufenthaltskosten für die Kinder von an schweren geburtlichen Depressionen erkrankten Müttern. Bei schwerwiegenden familiären Beeinträchtigungen arbeiten wir mit den Kolleginnen der Sophie von Liechtenstein Stiftung zusammen. 

Marc Risch: Es geht uns aber auch darum, die modernen psycho-neuro-immunologischen Erkenntnisse der Stressforschung in die therapeutische Arbeit zu übersetzen und den Patientinnen und Patienten zugänglich zu machen. Wir wissen bereits jetzt, dass eine Kombination von sprachbezogenen und nicht-sprachbezogenen Therapien gemeinsam mit einem klug gewählten, individualisierten Medikamenteneinsatz bei Affekterkrankungen am wirksamsten ist. Allerdings werden die nicht sprachbezogenen Therapien – das sind Kunst- und Klang-Therapien, aber auch bewegungstherapeutische und tiergestützte Verfahren – von der ambulanten Grundversicherung meist nicht bezahlt. Diesbezüglich wollen wir ein Umdenken erreichen und diese versorgungsrelevanten Themen auf die politische Agenda bringen. So lange, bis sie gelöst sind.

Was ist das Fernziel, das Sie mit der Stiftung TIEFSINN verfolgen?
Michaela Risch:
Die Stiftung TIEFSINN setzt sich für Chancengleichheit, Gleichberechtigung und Inklusion psychisch erkrankter Menschen ein – nicht nur am Tag der psychischen Gesundheit, sondern 365 Tage im Jahr. Ein weiter Weg, den wir mit öffentlicher Unterstützung schaffen wollen.