«Lassen Sie sich impfen und nehmen Sie Rücksicht»

«Wer glaubt, die Pandemie sei Geschichte, irrt», sagt Ruth Kranz, die Präsidentin der Liechtensteinischen Ärztekammer. Sie weist auf die ansteckenderen neuen Virusvarianten hin, aufgrund deren Ausbreitung die Lockerung der Massnahmen zur Unzeit komme. Hoffnung setzt auch sie in die Impfungen, deren Schutzwirkung gegen die bisherigen Varianten erwiesen ist und die keinerlei Gefahren in sich tragen.

Frau Kranz, Sie haben sich seit Ausbruch der Pandemie nie gescheut, einschneidende Massnahmen zu fordern. Nicht immer sind Sie dabei auf offene Ohren gestossen. Wie beurteilen Sie den Weg, den Liechtenstein bisher durch die Krise gegangen ist?
Ruth Kranz: Liechtenstein hat bisher sehr viel Glück gehabt, und die Regierung hat in dieser Pandemie auch vieles richtig entschieden. Trotzdem darf nicht ungesagt bleiben, dass Infektionen, Todesfälle und auch schwere, bleibende Spätschäden hätten verhindert werden können, wenn man zu gewissen Zeiten schneller, mutiger und entschlossener reagiert hätte. 

Regelmässig werden unterschiedlichste Kritiken an dem Corona-Impfungen laut. Sie reichen von einer zu kurzen Erprobungszeit der Vakzine über gefährliche Nebenwirkungen bis hin zu unbekannten Spätfolgen. Wie schätzen Sie diese Risiken ein?
Die zwei m-RNA Impfungen von Biontech-Pfizer und Moderna sind sicher und schützen in höchstem Masse vor einer Ansteckung sowie vor einer Weitergabe des Virus. Sie verhindern schwere Verläufe zu 100 Prozent. Ob das bei allen noch zu erwartenden Mutationen so bleiben wird, weiss man schlicht nicht. Die neue «Variant of concern» aus Indien ist möglicherweise bereits eine neue Virusform, bei der nicht bekannt ist, ob und in welchem Masse die Impfungen wirken.

Gefährliche Nebenwirkungen haben beide Impfungen aber in keinem Fall. Das Prinzip der m-RNA Impfungen wird seit Jahrzehnten erforscht und ist den Wissenschaftlern bekannt, es gab nur noch nie eine solche Impfung, weil kein Bedarf an einer neuen Impfung bestand. In Zukunft wird die Welt der Impfungen, davon sind viele Immunologen und Infektiologen überzeugt, den m-RNA-Impfungen gehören. 

Abgesehen von den bekannten Distanz- und Hygienemassnahmen und der Impfung: Was kann jeder Einzelne machen, um sich optimal gegen eine Infektion und insbesondere gegen einen schweren Krankheitsverlauf zu schützen?
Leider wenig. Coronaviren sind äusserst unberechenbar. Es gibt natürlich Risikofaktoren, die Personen für einen schweren Verlauf prädisponieren. Wie die Realität zeigt, hält sich das Virus oft aber nicht an unsere Erwartungen. Zum Teil werden junge, gesunde Menschen sehr schwer krank und alte, gebrechliche Personen überstehen die Infektion relativ unbeschadet. Warum das so ist, weiss niemand. Eine bekannte Virologin sagte gerade vor kurzem: «Covid-19 ist das fieseste Virus, das mir je begegnete.» Und damit hat sie wohl recht. 

Die zwei m-RNA Impfungen von Biontech-Pfizer und Moderna sind sicher und schützen in höchstem Masse vor einer Ansteckung sowie vor einer Weitergabe des Virus.

Ruth Kranz, Präsidentin der Liechtensteinischen Ärztekammer

 

Gesundheitsminister Manuel Frick hat kürzlich den Vergleich zu einem Marathonlauf gezogen und von der 35-Kilometer-Marke gesprochen, die inzwischen erreicht sei. Wie sehen Sie dies? Ist das Schlimmste bald überwunden?
Ich finde das eine äusserst mutige und optimistische Aussage des Ministers, und ich hoffe von Herzen, dass er recht hat. Wir sind alle «coronamüde» und möchten zurück zur Normalität. Aber vergessen wir nicht: Wir konnten die Zahlen bis jetzt auf einem einigermassen stabilen, niedrigen Niveau halten, weil wir in einem weitreichenden Teil-Lockdown lebten, der sogenannten Winterruhe. Jetzt wird gelockert, obwohl das Virusgeschehen nicht mehr vom Wildtyp, sondern von der viel ansteckenderen und gefährlicheren britischen Variante beherrscht wird und rund um uns die Ansteckungszahlen im besten Fall stabil sind, wenn nicht sogar steigen. Damit müssten die Fallzahlen eigentlich deutlich steigen, was übrigens allenthalben auch von den Modellierern und allen anderen Wissenschaftlern angenommen wird. Entscheidend wird sein, wie viele Menschen bereits geimpft sind, wie vernünftig wir alle uns hinsichtlich der immer noch geltenden Vorsichtsmassnahmen verhalten und ob das Virus weiter in Richtung gefährlicherer Varianten mutiert. 

Welchen Appell richten Sie bis dahin an die Bevölkerung?
Es ist noch nicht vorbei! Wer jetzt glaubt, die Pandemie sei Geschichte, irrt. Wenn wir nicht äusserst vorsichtig agieren und bei Verschlechterung der Situation auch sofort reagieren, ist es durchaus möglich, dass der Preis, den wir alle bezahlen werden, ein sehr hoher sein wird. Bleiben Sie vorsichtig und vernünftig, haben Sie noch etwas Geduld, lassen Sie sich impfen und nehmen Sie Rücksicht aufeinander.