Solidarisch ja – aber mit wem? 

DR. CHRISTIAN FROMMELT Politikwissenschaftler, Direktor des Liechtenstein-Instituts

Seit Beginn der Corona-Krise ist das Gebot der Solidarität allgegenwärtig. Solidarität lässt sich nur schwer definieren und doch wissen wohl alle intuitiv, was damit gemeint ist. Einfach ausgedrückt bezeichnet Solidarität die wechselseitige Verpflichtung, füreinander einzustehen und sich gegenseitig zu helfen. Sie wird in vielen Kontexten geübt, sei es in der Familie, in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis, also dort, wo ein Gefühl der Zugehörigkeit vorliegt. 

Ein typischer Ort der Solidarität ist auch der Nationalstaat, was sich z. B. an der hohen Akzeptanz von wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungssystemen zeigt. Auch in der Corona-Krise wird Solidarität meist als Solidarität innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen aufgefasst. Gleichwohl hat der Landtag bereits früh eine Petition des Netzwerks für Entwicklungszusammenarbeit zur Aufstockung der humanitären Hilfe in ärmeren Ländern aufgrund der Corona-Pandemie unterstützt. Dieses Bekenntnis zur Solidarität im Rahmen der internationalen humanitären Zusammenarbeit wurde von der Regierung seither mehrfach bekräftigt. 

Europäische Solidarität
Als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) kennt Liechtenstein auch eine europäische Solidarität. Das wichtigste Beispiel hierfür ist der EWR-Finanzierungsmechanismus, welcher einen gemeinsamen Beitrag der drei EWR/EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit zwischen den EWR-Staaten darstellt. Beitragsempfänger sind jene 15 EU-Staaten, deren Bruttonationaleinkommen pro Kopf unter 90 Prozent des EU-Durchschnitts liegt. Für die Periode 2014–2021 liegt Liechtensteins Beitrag zum EWR-Finanzierungsmechanismus bei ca. 2,3 Millionen Euro pro Jahr.

Die Notwendigkeit eines solchen Finanzierungsmechanismus ist in Liechtenstein unbestritten. Allerdings war die Regierung stets darauf bedacht, dass die Beiträge möglichst gering ausfallen. Entsprechend intensiv sind jeweils die Verhandlungen mit der EU. Auch in anderen Kontexten zeigt sich Liechtenstein nur bedingt solidarisch mit seinen EWR-Partnern. So nimmt es z. B. vor allem dann an EU-Programmen teil, wenn es sich selbst einen direkten Profit verspricht. Eine Teilnahme am EU-Forschungsprogramm Horizon Europe, über welches künftig wohl auch etliche Forschungsprojekte zur Corona-Pandemie finanziert werden, wurde dem Landtag unter Verweis auf die geringen zu erwartenden Rückflüsse gar nicht erst vorgelegt. 

Verlässlich engagiert solidarisch
Auch die Beiträge im Rahmen des EWR-Finanzierungsmechanismus können letztlich als eine sehr berechnende Form der Solidarität gedeutet werden. So lässt sich der EWR-Finanzierungsmechanismus primär als Preis für den Eintritt in den europäischen Binnenmarkt verstehen. Es geht dabei also mehr darum, eine Forderung der EU zu erfüllen, als originäre Solidarität zu zeigen. Da in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum ein starkes Wohlstandsgefälle für wohlhabende Staaten Probleme mit sich bringen kann, ist es darüber hinaus durchaus rational, durch Transfers und Investitionen die Prosperität von weniger wohlhabenden Staaten zu fördern. Europäische Solidarität basiert somit in Liechtenstein weitgehend auf einer Kosten-Nutzen-Rechnung statt auf dem Gefühl der Verbundenheit – sprich: einer europäischen Identität. 

Für einen Kleinststaat mit geringen personellen Ressourcen und einer eingeschränkten medizinischen Infrastruktur sind in der Corona-Krise finanzielle Mittel das einzige Instrument, um im europäischen Kontext Solidarität zu zeigen. Angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Kluft zwischen den europäischen Staaten wird der Druck auf Liechtenstein, sich finanziell stärker für die europäische Zusammenarbeit zu engagieren, in den kommenden Jahren steigen. Bleibt zu hoffen, dass Liechtenstein sich dabei an die Grundsätze seiner Aussenpolitik erinnert und die proklamierte Trias «verlässlich engagiert solidarisch» auch gegenüber den europäischen Partnern gelebt wird.