Bereits seit 100 Jahren setzt sich der Liechtensteinische ArbeitnehmerInnenverband (LANV) für die Anliegen der Arbeiter und (später) auch der Arbeiterinnen, der Angestellten und ganz grundsätzlich der erwerbstätigen Bevölkerung Liechtensteins ein.
Dabei hat sich der Organisationsgegenstand der einzigen liechtensteinischen Gewerkschaft im Laufe der Jahre grundsätzlich verändert und wird sich auch in Zukunft weiterhin verändern. Waren es zu Beginn vorwiegend Arbeiter aus dem Baugewerbe, die in der benachbarten Schweiz das Gewerkschafts- und Streikwesen kennenlernten und nach Liechtenstein brachten, und Arbeiter aus der Industrie, kamen später immer mehr Branchen hinzu, die durch den LANV organisiert wurden. Die Verbreiterung der Organisationsbasis einer Gewerkschaft bringt nicht nur Vorteile mit sich. Zwar können so mehr Menschen organisiert werden, es ist aber auch schwerer, ihre unterschiedlichen Interessen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. «Trittbrettfahrer» profitieren vom Vorhandensein einer Gewerkschaft, die arbeitnehmerfreundlichere Verträge und Gesetze aushandelt, ohne dabei Mitglied der Organisation zu sein. Der zunehmende Strukturwandel der Arbeit sowie das Wegfallen klassischer gewerkschaftsnaher Branchen durch Automatisierung und Digitalisierung haben dazu geführt, dass der Niedergang der Gewerkschaften von manchen bereits für beschlossene Sache angesehen wurde. Gleichzeitig stehen Gewerkschaften immer unter Druck: Ein allzu erfolgreiches Einfordern ihrer Ziele kann ihre Existenz und Daseinsberechtigung infrage stellen. Denn geht es den Arbeitnehmer/-innen (allzu) gut, werden die Rufe nach gewerkschaftlichem Handeln leiser.
Die aktuelle Corona-Krise zeigt jedoch exemplarisch, wie sehr eine Gesellschaft auf Organisationen wie zum Beispiel Gewerkschaften angewiesen ist. Dabei sind Erwerbsersatzforderungen von Eltern, welche derzeit ihre Kinder aufgrund von Schulschliessungen und Wegfall der Betreuung durch Grosseltern selbst daheim betreuen und unterrichten müssen, nur die Spitze des Eisberges. Gerade in Krisenzeiten müssen Bedürfnisse und Anliegen gebündelt werden, um so das kleinstaatliche System zu entlasten.
Ebenso wie sich der Organisationsbereich der Gewerkschaften verändert, muss auch die
Gewerkschaft sich immer wieder wandeln und hinterfragen, welche Bedürfnisse und Anliegen vertreten werden und wofür sie sich einsetzt. Ihr Handeln darf nicht nur reaktiv, sondern sollte vorausschauend und antizipierend sein. Dabei können und sollen auch Themen in den Fokus geraten, die nicht zur klassischen Arbeit von Gewerkschaften gehören. Beispielsweise der Umgang mit unbezahlter Arbeit oder ganz grundsätzlich eine Loslösung der Existenzsicherung von Erwerbstätigkeit. Gewerkschaftsarbeit kann heute also nicht dort enden, wo die bezahlte Erwerbstätigkeit aufhört. Sie muss den ganzen Menschen im Sichtfeld haben und versuchen, die Situation der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen als Ganzes zu verbessern. In einem Kleinstaat wie Liechtenstein mit nur einer einzigen Gewerkschaft wiegt diese Verantwortung besonders schwer. Um dieses Gewicht zu stemmen, braucht es, wie die letzten 100 Jahre zeigen, sehr viel Engagement einzelner Persönlichkeiten. Damit eine Gewerkschaft aus einer reaktiven Haltung in eine proaktive Handlungsweise wechseln kann, reicht dieses Engagement nicht aus.
Es braucht auch ein klares Bekenntnis des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft als Ganzes, dass eine gewerkschaftliche Organisation auch in einem Kleinstaat wie Liechtenstein unverzichtbar ist und entsprechend wertgeschätzt werden sollte.