Der EWR als Erfolgsmodell für Liechtenstein

Landtag befasst sich in der Mai-Session mit dem
Regierungsbericht zur 25-jährigen EWR-Mitgliedschaft

 

In der Sitzung vom 6.-8. Mai 2020 befasst sich der Landtag u.a. mit einem B+A der Regierung zur 25-jährigen EWR-Mitgliedschaft. Im Bericht zeigt die Regierung auf, welche Erfahrungen Liechtensteins Mitgliedschaft zum Europäischen Wirtschaftsraum in diesen 25 Jahren gemacht hat.

Im Vergleich zu früheren Berichten der Regierung stellt der vorliegende Bericht die letzten fünf Jahre in kompakter Weise dar und verweist auf andere öffentlich zugängliche Berichte der involvierten Stellen.

Positive Gesamtbilanz trotz Herausforderungen
bei der Übernahme

Auch nach 25 Jahren EWR-Mitgliedschaft kann seitens der Regierung eine durchwegs positive Gesamtbilanz gezogen werden. In den letzten fünf Jahren stellte jedoch die rechtzeitige Übernahme von EWR-Recht eine besondere Herausforderung dar. Vor allem die Übernahme der Europäischen Finanzaufsichtsstruktur führte zu grossen Übernahmeverzögerungen im Finanzdienstleistungsbereich und letztlich zu Marktzutrittshindernissen für liechtensteinische Unternehmen. Schliesslich ist es doch gelungen, eine Lösung zu finden, die sowohl dem Homogenitätsziel als auch dem Zwei-Pfeiler-System des EWR ausreichend Rechnung trägt. Ausserdem konnte durch verstärkte Anstrengungen, sowohl auf EU-wie auch EFTA-Seite, der Rückstau bei der EWR-Übernahme (Backlog) im Finanzdienstleistungsbereich im Jahr 2019 um 85% reduziert werden. Diesem Bereich wird auch in Zukunft höchste Priorität beigemessen. Trotz der Herausforderungen bei der Übernahme von EWR-Recht wird der EWR in den Rückmeldungen der Interessensverbände als durchwegs positiv eingeschätzt. Die eingegangenen Stellungnahmen der Interessensverbände bestätigen, dass der EWR. ein Erfolgsmodell ist, der neben vielen Verpflichtungen auch viele Chancen bringt.

Als wichtiger Standortfaktor wird seitens der Verbände der Zugang zum EU-Binnenmarkt mit seinen über 518 Mio. Einwohnern unter Beibehalt des Zugangs zum Schweizer Markt hervorgehoben. Erwähnt wird seitens der Interessensverbände aber auch, dass der EWR eine Regulierungsflut mit sich gebracht hat, die die einzelnen Unternehmen vor grosse Herausforderungen stellt. Konkret erwähnt werden in diesem Zusammenhang die Datenschutzgrundverordnung und das öffentliche Auftragswesen.

Grosse Akzeptanz des EWR bei der Bevölkerung

Bemerkenswert ist, dass nach der Auswertung der vom Liechtenstein Institut durchgeführten Umfrage zur EWR-Mitgliedschaft Liechtensteins die Beurteilung des EWR durch die liechtensteinische Bevölkerung wieder (äusserst) positiv ausfällt. Diese zeigt, dass der EWR -wie bereits bei der Umfrage 2015 zur 20-jährigen EWR-Mitgliedschaft -bei 76 % ein positives Bild hervorruft und von der Bevölkerung als beste Option der liechtensteinischen Europapolitik beurteilt wird.

Erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung

Die im Grossen und Ganzen erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung seit 1995 legt die Schlussfolgerung nahe, dass es gelungen ist, mit der EWR-Mitgliedschaft die guten Rahmenbedingungen in Liechtenstein zu erhalten bzw. sogar auszubauen. Der durch den EWR bedingte Konkurrenzdruck stellte für einzelne Branchen und Unternehmen beim Beitritt zum EWR-Abkommen eine grosse Herausforderung dar. Es zeigte sich allerdings, dass die liechtensteinische Wirtschaft auch in den letzten fünf Jahren imstande war und weiterhin ist, sich den neuen Herausforderungen zu stellen und die erfolgte Öffnung des EU-Binnenmarkts zu ihren Gunsten zu nutzen. Der ungehinderte Zugang zum EU-Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen, der insgesamt 30 Staaten und über 518 Mio. Bürger umfasst, stellt einen bedeutenden Standortvorteil dar, der sich auch in den Exportstatistiken niedergeschlagen hat. Positiv zu beurteilen ist zudem, dass in den letzten fünf Jahren eine weitere Diversifizierung und Internationalisierung im Dienstleistungsbereich stattgefunden hat. Gesamthaft kann festgestellt werden, dass sich die liechtensteinische Volkswirtschaft heute in sehr guter Verfassung befindet.

Stärkung der Eigenständigkeit

Der EWR Beitritt Liechtensteins hat -ähnlich wie der Beitritt zu den Vereinten Nationen -einen wichtigen Beitrag zu einer eigenständigen liechtensteinischen Aussenpolitik geleistet. Die EWR-Mitgliedschaft hat es Liechtenstein auch in den letzten fünf Jahren ermöglicht, an aussenpolitischem Profil zu gewinnen und die Wahrnehmung Liechtensteins als aktives und verlässliches Mitglied der Staatengemeinschaft zu erhöhen. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass die Kosten für die Mitgliedschaft im EWR, einschliesslich der Kosten für die Beteiligung an EU-Programmen und am EWR-Finanzierungsmechanismus, gestiegen sind. Heute machen diese Kosten einen beträchtlichen Anteil der Gesamtkosten für die Mitgliedschaften Liechtensteins in internationalen Organisationen und Vereinigungen aus.

Beziehungen zu den Nachbarländern
Schweiz, Österreich und Deutschland

Trotz des EWR-Beitritts konnten die besonders engen Beziehungen zur Schweiz gewahrt werden. Im Bereich Warenverkehr funktioniert die so genannte „Parallele Verkehrsfähigkeit“ problemlos. Es zeigt sich aber zunehmend, dass der unterschiedliche Integrationsweg von Liechtenstein und der Schweiz aufgrund der abweichenden Regelungen bzw. Rege-lungsansätze zu Problemen führen kann. Bis heute konnten, soweit erforderlich, immer Lösungen im beiderseitigen Interesse gefunden werden. Zukünftig könnte dies eine noch grössere Herausforderung darstellen. Anders als die Schweiz sind Österreich und Deutschland Mitglieder der EU. Durch die gemeinsame Mitgliedschaft im EWR haben die Beziehungen zu Österreich und Deutschland in den letzten fünf Jahren an zusätzlicher Intensität und Tiefe gewonnen.

Liechtenstein-spezifische Lösung
für den Personenverkehr

Das EWR-Abkommen hat sich für sehr sensible, Liechtenstein-spezifische Themen nicht nur als verkraftbare, sondern auch als anpassungsfähige Lösung erwiesen. Die bei EWR-Beitritt verhandelten und im Laufe der Mitgliedschaft angepassten Bestimmungen im Bereich des freien Personenverkehrs stellen dies unter Beweis. Liechtenstein konnte in diesem Bereich eine massgeschneiderte Lösung verhandeln, welche die geographischen, demographischen und soziologischen Gegebenheiten in Liechtenstein angemessen berücksichtigt. Diese Liechtenstein-spezifische Lösung für den Personenverkehr hielt den EWR-Erweiterungen 2004, 2007 und 2014 nicht nur Stand, sondern es gelang Liechtenstein vielmehr, im Rahmen der Verhandlungen zur EWR-Erweiterung 2004 eine neue, auf Dauer angelegte Lösung auszuhandeln. Diese sieht kein automatisches Auslaufen der Personenverkehrslösung mehr vor, sondern lediglich eine Überprüfung derselben in regelmässigen Abständen. Im August 2015 hat diese Überprüfung ergeben, dass die Voraussetzungen weiterhin vorliegen, um die Sonderlösung unverändert fortzuführen. Die Überprüfung 2020 ist noch ausstehend. Es gibt aber keine Anzeichen, dass die Sonderlösung von der EU in Frage gestellt wird.

Komplexität und Umsetzungsaufwand des EWR-Rechts

Zweifelsohne gibt es im EWR-Abkommen auch komplexe Rechtsvorschriften, die Probleme und einen zum Teil erheblichen Aufwand in der Umsetzung in nationales Recht und in der Anwendung verursachen. Eine besondere Herausforderung im EWR ergibt sich auch daraus, dass sich der EU-Binnenmarkt fortlaufend entwickelt und damit der Rechtsrahmen des EWR-Abkommens erweitert wird. So werden pro Jahr im Durchschnitt 450 neue EU-Rechtsakte ins EWR-Abkommen übernommen. Im Interesse der Wahrung der Homogenität und einer effektiven Rechtsüberwachung im EU-Binnenmarkt mussten sich die EWR/EFTA-Staaten in den letzten Jahren darauf einstellen, dass für die Regulierung und Aufsichtstätigkeit zunehmend spezialisierte und von der Europäischen Kommission losgelöste EU-Behörden eingesetzt werden. Die Abbildung der Rolle solcher Behörden im EWR unter Rücksichtnahme auf die vertraglich verankerte Zuständigkeit der EFTA-Überwachungsbehörde erforderte bislang anspruchsvolle und zeitraubende Verhandlungen. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass die zunehmende Integrationstiefe und Regulierungsdichte im europäischen Binnenmarkt-recht für Liechtenstein bedeutet, dass es Einschränkungen in seiner gesetzgeberischen Autonomie in Kauf nehmen muss. Doch es überwiegen die Vorteile, denn mancher EU-Rechtsakt bietet auch neue Geschäftsmöglichkeiten, beispielsweise im Bereich Finanzdienstleistung.

Grössenverträglichkeit gegeben

Im Vorfeld des EWR-Beitritts wurden teilweise Bedenken geäussert, dass die EWR-Mitgliedschaft einen unverhältnismässigen Aufwand verursachen würde. Nach 25-jähriger Erfahrung kann hierzu ebenfalls eine grundsätzlich positive Bilanz gezogen werden, auch wenn mehr neue Stellen in der Landesverwaltung als ursprünglich prognostiziert geschaffen werden mussten. Es hat sich gezeigt, dass mit der Schaffung der Stabsstelle EWR als zentrale Anlauf- und Koordinationsstelle, der Stärkung der Mission in Brüssel, dem Aufbau von Fachwissen in den Generalsekretariaten und den Amtsstellen sowie dem Einbezug der Interessensverbände das EWR-Abkommen effizient zu administrieren und dabei insbesondere die Interessen Liechtensteins optimal zu wahren sind. Die Umsetzungsstatistiken der EFTA-Überwachungsbehörde belegen, dass Liechtenstein seine Umsetzungsverpflichtungen sehr gut erfüllt. Kritik am EWR-Abkommen wurde aus den zur Stellungnahme eingeladenen Kreisen teilweise dahingehend geübt, dass der durch den EWR geforderte Wettbewerb gewohnte Praktiken und Abläufe tangiere (beispielsweise im Bereich öffentliches Auftragswesen) bzw. der staatliche Handlungsspielraum durch die staatlichen Beihilfenregelungen des EWR-Abkommens eingeschränkt werde. Manche Interessensverbände und Gemeinden kritisierten zudem die mit dem EWR-Abkommen einhergehende Regelungsdichte, insbesondere den Aufwand der mit der Datenschutzgrundverordnung verbunden war und ist.

EWR und Steuern

Die Steuerharmonisierungsfragen werden von der EU nicht nur innerhalb der EU/EWR-Institutionen gestellt, sondern sie betreffen vielmehr alle Staaten mit vorteilhaften Steuersystemen (wie z.B. manche EU-Staaten und auch die Schweiz). Nach Auffassung der Regierung ist die Zugehörigkeit zum EWR auch in diesem Zusammenhang als Vorteil zu werten, können doch nur die EWR-Mitglieder vom Grundprinzip des EWR-Abkommens als Raum des Rechts profitieren. Der Abschluss des Abkommens über den automatischen Informationsaustausch zwischen Liechtenstein und der EU sowie die Streichung Liechtensteins von der „grauen“ EU-Steuerliste im Herbst 2018 haben dazu geführt, dass einige EU-Länder ihre EWR-rechtlichen Beschränkungen gegenüber Liechtenstein aufgehoben haben.

EWR-Vertrag: nicht bloss ein Wirtschaftsvertrag

Der EWR hat auch im Konsumenten -und Arbeitnehmerschutz, bei der Gleichstellung von Mann und Frau und in anderen gesellschaftlichen Bereichen verschiedene Veränderungen ausgelöst, die jedem Einzelnen zugutekommen. Diese Entwicklung wurde auch in den letzten fünf Jahren fortgesetzt.

Bildung und Jugend

Was die Teilnahme an EU-Programmen, insbesondere im Bereich der EU-Bildungs- und der Jugendprogramme betrifft, wurden die Erwartungen -wie bereits seit Beginn der EWR-Mitgliedschaft -weit übertroffen. Gerade dieser Bestandteil des EWR-Abkommens ist für ein europäisches Bewusstsein der Menschen besonders hervorzuheben und als eine langfristige, friedensstiftende und die Lebensqualität erhöhende Investition zu betrachten.

Gute Ausgangslage für weitere Entwicklungen

Die Regierung bewertet den aktuellen Integrationsstatus Liechtensteins aufgrund des EWR-Abkommens als angemessen. Dennoch darf die Dynamik in-und ausserhalb des EWR, dabei insbesondere bezüglich der integrationspolitischen Entwicklungen in der EU, in den Ländern unserer EFTA-Partner und allen voran in der Schweiz, nicht unterschätzt werden. Die Regierung beobachtet die Entwicklungen sehr genau, um bei Bedarf die geeigneten Weichenstellungen vornehmen zu können.