Ein Liechtensteiner 1944 vor dem Volksgerichtshof

Enrico (Heinrich) Bardyguine, 1940. (Liechtensteinisches Landesarchiv. – Publiziert in: Geiger, Kriegszeit, Bd. 2, S. 428)

Geschichte verfasst vom Historiker
Dr. Peter Geiger 

Dies ist eine wirkliche Kriminalgeschichte. Sie traf im Zweiten Weltkrieg einen jungen Liechtensteiner, Enrico (Heinrich) Bardyguine. Er war 1920 in Rom geboren worden. Sein Weg führte ihn über Florenz nach Liechtenstein, von hier nach Hitlerdeutschland, vor den Volksgerichtshof in Berlin und in die Bombentrichter süddeutscher Städte.  

Herkunft
Seine Eltern waren Fedor und Rina Bardyguine, geborene Marucelli. Fedor Bardyguine
war russischer Emigrant. Er hatte zeitweilig in Wien gelebt. 1922 hatte er sich in Liechtenstein einbürgern lassen, in Planken. 1930 heiratete Fedor in Italien Rina Marucelli und adoptierte deren 10-jährigen Sohn Enrico Marucelli. Dieser hiess nun Bardyguine und war ebenso Liechtensteiner und Plankner Bürger.

In Liechtenstein
1940 war der 20-jährige Enrico Bardyguine Student in Florenz. Er war Gegner des Mussolini-Faschismus. Und er geriet in Not. Ab November 1940 lebte er zeitweilig in Planken. Die Gemeinde musste den Mitbürger verköstigen, teils in den «Dreischwestern». Er wollte nach Italien zurückkehren, im März 1941 beantragte er in Zürich ein italienisches Visum, Planken stellte ihm den benötigten Ariernachweis aus («razza ariana», arisch). Das italienische Konsulat lehnte das Visum für Italien ab. Im Mai 1941 lebte Bardyguine in Mauren. Nun schlug er sich 1941 und 1942 mit diversen Jobs in Liechtenstein durch, zeitweilig wohnte er in Mauren, ebenso in Vaduz. 

Er beantragte wiederholt eine Grenzkarte, um in Vorarlberg als Grenzgänger zu arbeiten. Sie wurde in Feldkirch immer abgewiesen. Im Herbst 1942 suchte er in Lugano Arbeit. Offenbar gelang ihm von dort der Grenzübertritt, jedenfalls war er in der ersten Jahreshälfte 1943 wieder in Florenz. Im August 1943 – inzwischen war Mussolini in Italien gestürzt – kehrte er nach Liechtenstein zurück. Hier arbeitete er bei
Rudolf Hagen, der auch den «Adler» führte. Bardyguine kannte inzwischen gleichaltrige Vaduzer Kollegen. Ihnen gegenüber äusserte er sich kritisch zu Mussolini und Hitler.

Feldkirch
Wieder lehnte Feldkirch ein Grenzkartengesuch ab. Über einen Vaduzer Freund, der ihn im «Adler» mit einem österreichischen Grenzbeamten in Kontakt brachte, erlangte Bardyguine im Dezember 1943 dann doch eine Grenzkarte, samt Zusage für eine gut bezahlte Stelle in einem Feldkircher Baugeschäft. Am 13. Dezember 1943 reiste er nach Feldkirch, ging ins Arbeitsamt. Man schickte ihn zur Grenzpolizei. Dort nahm ihn jener Grenzbeamte, der ihm im «Adler» so freundlich begegnet war, in Empfang – und in Haft. Bardyguine war von Liechtenstein aus denunziert und in die Gestapo-Falle gelockt worden.

Verhöre in Innsbruck
Nach einer Nacht in Feldkirch wurde er nach Innsbruck ins Landesgerichtsgefängnis über-führt, dort in Lumpen gesteckt. Nach einer Woche wurde er am 21. Dezember 1943 zum Verhör geholt. Ein Gestapo-Mann tippte erst freundlich Bardyguines Personalien ein. Warum er nach Deutschland gekommen sei? Zur Arbeitsannahme. Daraufhin ohrfeigte und schlug der Gestapo-Mann Bardyguine, bis die Wand voll Blut war, nannte ihn «Hund» und «Dreck-sau» und warf ihm vor, er habe Verbindung zum Secret Service, was Bardyguine verneinte, worauf die Schläge weitergingen. Sieben Tage lang wurde er so verhört – es waren die Weihnachtstage –, täglich von 8 bis 18 Uhr. Stundenlang musste er schweigend an der Wand stehen, ohne Essen. Am 28. Dezember entsicherte der Verhörende ein Gewehr und tat, als wolle er den Verhörten erschiessen, schlug ihn dann bewusstlos. Zurück im Gefängnis wurde der Häftling in eine dunkle, kalte Kellerzelle gesperrt, bei Wasser und Brot. Dort blieb er «16 furchtbare Tage». Am 13. Januar 1944, nachts um 2 Uhr, holte man ihn zum neuerlichen Gestapo-Verhör. Der Funktionär machte Anstalten zu schwerer Folterung und befahl, ein Protokoll zu unterschreiben: dass Bardyguine sich im Ausland «reichsfeindlich» betätigt und mit dem englischen Secret Service in Verbindung gestanden habe. Angesichts der Folterdrohung unterschrieb Bardyguine, bestätigte auch schriftlich, man habe ihn nicht misshandelt. Der Verhörende war am Ziel: «Herr Bardyguine, mache Sie aufmerksam, dass Sie Landesverrat begangen haben, darauf steht Todesstrafe, Sie werden dem Schafott nicht entgehen.»  

«Villa Mutter», Feldkirch, im Zweiten Weltkrieg Sitz der Grenzpolizei und Gestapo.
(Foto: Friedrich Böhringer 2008, Wikipedia. – Publ. in Geiger, Kriegszeit, Bd. 2, S. 428)

Oster-Lektüre
Nun blieb Bardyguine vorerst monatelang weiter in Untersuchungshaft in Innsbruck. Zu Ostern 1944 erbat er ein Gebetbuch, er war katholisch. Er erhielt «Mein Kampf». Am 1. Mai wurde er dem Untersuchungsrichter vorgeführt, der kam aus Stuttgart und trug SA-Uniform. Er hielt dem Häftling vor, was Vertrauensleute in Liechtenstein der Gestapo berichtet hätten. Bardyguine erkannte Aussagen, wie er sie in der Tat in Vaduz gegenüber verschiedenen Personen geäussert hatte. Nun verwandte man sie gegen ihn. Man hielt ihm auch andere Erkenntnisse über Kontakte in Lugano und in Italien vor. Man sah in ihm einen Geheimagenten der Alliierten. Was passiere, wenn er nicht unterschreibe? Dann würde er der Gestapo zurückgegeben, war die Antwort. Da unterschrieb er das fabrizierte Geständnis.

Inzwischen hatte die liechtensteinische Regierung erfahren, dass ihr Plankner Bürger in Innsbruck in Haft sass. Sie ersuchte das Eidgenössische Politische Departement in Bern, ihn konsularisch zu betreuen. Im Juni 1944 besuchte ein Vertreter des in Bregenz stationierten schweizerischen Konsulats den Häftling. Er brachte Kleider und Lebensmittel, die Gestapo verbot die Entgegennahme.

Vor dem Volksgerichtshof
Im Juli 1944 erhielt Bardyguine vom 4. Senat des Volksgerichtshofs in Berlin die Anklageschrift und daraufhin den Hauptverhandlungstermin auf den 3. August. Das zu erwartende Ende war nah. Ein Selbstmordversuch folgte, er scheiterte an der Aufmerksamkeit des Nachtaufsehers. Am 2. August, dem Tag vor der Gerichtsverhandlung, wurde Bardyguine um 3 Uhr nachts abgeholt und per Sondertransport von Innsbruck nach Berlin überführt. Mit dabei war auch ein Franzose, ebenfalls wegen «Landesverrats» angeklagt, ein Sohn des französischen Generals Louis Chauvineau.

Anderntags, am 3. August 1944 um 9 Uhr vormittags stand Bardyguine vor dem Volksgerichtshof in Berlin. Der Ankläger beantragte die Todesstrafe. Der Pflichtverteidiger (ein Dr. Schulz) dagegen bat den Senatspräsidenten um «Milderung der Strafe» in Anbetracht dessen, dass Bardyguine Bürger eines neutralen Staates sei. Die Verhandlung dauerte eineinhalb Stunden. Nach halbstündiger Beratung lautete das Urteil auf 7 Jahre Zuchthaus. Andernfalls wäre der 24-jährige Liechtensteiner in Berlin-Plötzensee gehängt worden – wie es Tausenden erging, auch dem französischen Generalssohn.

Sprengkommando
Nach einem weiteren Monat im Gefängnis Berlin-Plötzensee kam Bardyguine Anfang September 1944 in die bayrische Justizvollzugsanstalt Straubing – dort hatte 1923 Hitler eingesessen und über «Mein Kampf» gebrütet. Bardyguine wurde einem «Himmelfahrtskommando» zugeteilt, es musste Bombenblindgänger sprengen oder entschärfen. Straubing, Regensburg und München waren die Einsatzorte.

Die liechtensteinische Regierung, nicht à jour, beauftragte gegen das Jahresende 1944 das Politische Departement in Bern, sich bezüglich Bardyguines zu erkundigen und ihm Beistand zu leisten. Man erfuhr, Bardyguine sei schon am 3. August «wegen landesverräterischer Umtriebe» zu Zuchthaus verurteilt worden.

«Hungermarsch», Heimkehr
Im Chaos des Zusammenbruchs des Tausendjährigen Reichs wurde am 24. April 1945 – US-Truppen standen schon in Regensburg – die Haftanstalt Straubing um 5 Uhr früh evakuiert. Die Insassen, einige tausend, mit ihnen Bardyguine, wurden Richtung Dachau auf einen von Wachmännern begleiteten «Hungermarsch» geschickt, in Häftlingskleidung, mit einer dünnen Decke, viele in Holzschuhen. Viele Marschunfähige wurden ermordet. Mittags gab es etwas Kartoffeln, die Häftlinge assen Brennnesseln, Löwenzahn, Kräuter. Man schlief im Freien, marschierte durch Dingolfing, Landshut, Moosburg, Freising. 12 km vor Dachau wurde Umkehr befohlen, zurück über Freising nach Moosburg. Am 1. Mai, nach einwöchigem Hungermarsch, überholten und befreiten amerikanische Truppen die Kolonne von Häftlingen, in der Bardyguine war. Sie wurden von den Amerikanern in Privatwohnungen quartiert, gekleidet, verpflegt.

Heimkehr
Am 8. Mai 1945 – nun schwiegen die Waffen in Europa – konnte Enrico Bardyguine mit einer Rot-Kreuz-Autokolonne über Konstanz und Kreuzlingen in die Schweiz fahren. Am 10. Mai war er zurück in Liechtenstein, dem Tod entronnen.

In Liechtenstein wohnte er zuerst wieder in Planken. Zuhanden der Regierung schrieb er sogleich einen Bericht über seine Gefangenschaft. Darin und auch öffentlich sagte Bardyguine, ein bestimmter Vaduzer Altersgenosse und ehemaliger Freund habe ihn bei der Gestapo verraten. Der angeschuldigte Vaduzer zog Bardyguine vor den Plankner Vermittler. Andererseits ermittelten Regierung und Landgericht gegen jenen Vaduzer wegen verbotenen Nachrichtendienstes für die Gestapo, doch wurde das Verfahren mangels Beweisen 1947 eingestellt. Es blieb ungeklärt, wer Bardyguine bei der Gestapo denunziert hatte – infrage kamen etliche Personen.

Bei Einvernahmen der liechtensteinischen Polizei zur Sache sagte Bardyguine auch, er habe in Deutschland Kontakt mit seinen antifaschistischen Freunden in Italien herstellen und gemeinsam gegen den Nationalsozialismus wirken wollen. Ob solches tatsächlich die Absicht gewesen oder nur eine nachträgliche Eigeninterpretation als Widerstandskämpfer war, ist nicht auszumachen.

Bürgerrecht aberkannt
Enrico (Heinrich) Bardyguine fand nach dem Krieg keine längere Bleibe in Liechtenstein. Erst wohnte er in Planken, dann kurz in Mauren, ebenso in Triesen. Eine Zeitlang war er als «Korrespondent» tätig. Im September 1945 hatte er eine Anstellung in Feldkirch. Die Gemeinde Planken war sehr unzufrieden mit ihrem Bürger, forderte sie im Herbst 1946 doch, er müsse alle von der Gemeinde für ihn getätigten Auslagen zurückzahlen, zahle er nicht, sei er in eine Besserungsanstalt einzuweisen.

1946/47 kam es schliesslich zu einem Rechtsstreit bezüglich der erworbenen liechtensteinischen Staatsbürgerschaft von Enrico Bardyguine. Die liechtensteinische Regierung entschied 1947, seine Einbürgerung 1930 – durch Heirat seiner leiblichen Mutter mit dem nichtleiblichen Vater Fedor Bardyguine und Adoption, also automatische Einbürgerung durch Adoption – entbehre der Legitimität. Daher falle Enrico Bardyguines liechtensteinische Staatsbürgerschaft dahin. Alle auf ihn ausgestellten liechtensteinischen Ausweisschriften seien einzuziehen. Am 22. Mai 1947 wurde Enrico Bardyguine die liechtensteinische Staatsbürgerschaft aberkannt. Unklar sind neben den formalen die wirklichen Gründe für einen solchen doch krassen Schritt. Mittellosigkeit und Schulden scheinen mitgewirkt zu haben. 

Die Integration in der zeitweiligen liechtensteinischen Heimat gelang Enrico Bardyguine nicht. Das liechtensteinische Bürgerrecht brachte kein Glück – ausser dass es ihn beim Volksgerichtshof vor dem Strang verschonte. Nun war er wieder staatenlos. Seine Spur verlor sich im Ausland.

Der Volksgerichtshof in Berlin, eine Urteilsverkündung 1944. (Bild: Dt. Bundesarchiv, Wikipedia)