Interpellation zur Bedeutung des dualen Bildungssystems

14 Fragen an die Regierung

Gestützt auf Art. 45 der Geschäftsordnung vom 19. Dezember 2012 für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein, Landesgesetzblatt 2013 Nr. 9, reichen die unterzeichneten Abgeordneten der Vaterländischen Union eine Interpellation zur Bedeutung des dualen Bildungssystems ein.

Deshalb laden die Interpellanten die Regierung ein, nachfolgende Fragen zu beantworten.

  1. Die Anzahl angebotener Lehrstellen übersteigt die Anzahl Jugendlicher mit Interesse an einer Lehrstelle. Ist ein Trend für unbesetzte Lehrstellen insbesondere bei Betrieben ersichtlich, welche möglicherweise weniger attraktiv sind (im Verhältnis der Unternehmensgrösse mit Blick auf Kleinbetriebe) und wie könnte diesem Trend entgegen gewirkt werden?
  2. Zum Verlauf der Lehrstellenbewerbung: Gibt es Zahlen zur Anzahl von Bewerbungen pro angebotener Lehrstelle und zu mehrfach Bewerbungen pro Lehrstelle in Liechtenstein und besteht Chancengleichheit für den Zeitpunkt der Zu-/Absagetermine? Bestehen Harmonisierungsbestrebungen, Ab- oder Zusagetermine zu verbessern?
  3. Gibt es einen Trend zu vermehrten Lehrabbrüchen und falls ja, was sind die Gründe dafür?
  4. Industrie 4.0 führt zweifellos zu Veränderungen in der Arbeitswelt bzw. in verschiedensten Berufsbildern. Dabei überwiegen laut unterschiedlichster Studien die Vorteile für Beschäftigte wie für Unternehmen. Schon früher haben industrielle Revolutionen den Personalbedarf in einzelnen Berufsfeldern verändert. Bestehen Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die berufliche Aus- und Weiterbildung und das duale Bildungssystem?
  5. Sind weitere Massnahmen oder Förderprogramme hinsichtlich der zunehmenden Digitalisierung geplant?
  6. Die Gesamtanzahl von angebotenen Lehrstellen ist gesunken. Gibt es Informationen, welches die Gründe von Betrieben sind, weniger Lehrstellen anzubieten? Gibt es Informationen über einen Trend oder die jährlichen Schwankungen im Lehrstellenmarkt (Wirtschaftslage, Ausbildungskosten, fehlende Berufsbildner etc.)? Spielt der Kostenfaktor überbetrieblicher Kurse eine Rolle beim Entscheid zur Lehrlingsausbildung?
  7. Sollte Liechtenstein aktive Lehrbetriebe bei öffentlichen Auftragsvergaben im Rahmen der Möglichkeiten des ÖAWG nicht unterstützen, in dem gezielte Vergabekriterien solche Betriebe unterstützen?
  8. Wie wird der boomende Online Handel das duale Bildungssystem weiter beeinflussen und könnten gezielte Massnahmen und Informationen Jugendliche für dieses Thema sensibilisieren, Ausbildungsbetriebe und das lokale Gewerbe und damit Ihre eigenen Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu unterstützen?
  9. Eine finanzielle Unterstützung von Lehrbetrieben (in welcher Form auch immer) wäre sicher ein wichtiger Ansatz, die Ausbildungsbereitschaft von Betrieben zu fördern. Ausbildungen werden immer teurer. Bestehen hier Ansätze  und existiert ein genereller Trend nicht mehr auszubilden, aber dafür Fachkräfte von Ausbildungsbetrieben abzuwerben?
  10. Die aktuelle Ausbildungsvoraussetzung für die Ausbildungsbewilligung (Berufsbildnerkurse) ist ein wichtiger Punkt in unserem Bildungssystem. Pädagogisch gebildete Lehrlingsausbildner welche sich vor Ort ein Bild machen können und einen Draht zu den Jugendlichen haben, sind wichtig. KMU Betriebe gelangen diesbezüglich zunehmend an Grenzen. Wäre es sinnvoll, hier neben den bereits bestehenden Angeboten, weitere Unterstützung für solche Kleinbetriebe anzubieten?
  11. Die Nachfrage nach Lehrstellen ist in gewissen Branchen höher wie das Angebot. In handwerklichen Berufen überwiegt das Angebot. Wie kann diesem Trend – sich z.B. aus gesellschaftspolitischen Gründen für ein KV anstatt einer Ausbildung im Handwerk zu entscheiden – entgegengewirkt werden?
  12. Besteht eine tendenzielle Relation, dass grössere Betriebe eine höhere Ausbildungsbereitschaft aufweisen als Kleinbetriebe und falls ja, wie könnten Kleinbetriebe motiviert werden, Ausbildungsplätze anzubieten?
  13. Die Verantwortung für den Übertritt von Primarschulen in die weiteren Bildungsstufen sollte auch in einer ausgewogenen Schüleranzahl begründet auf einem Übertrittstest beruhen. Wie wird dieser Trend zur Einschulung in den gymnasialen Bildungsgang beurteilt und wie könnte die Selektion durchgeführt werden? Sind gewisse Trends ersichtlich?
  14. Wäre es sinnvoll regelmässige repräsentative Umfragen im Angebots- und Nachfragebereich auf dem Lehrstellenmarkt Liechtensteins durchzuführen, um Entwicklungstrends mit kurz- oder langfristiger Tendenz festzustellen und somit verlässliche Indikatoren zur Situation im Lehrstellenmarkt aufzuzeigen?

 

Begründung

Die laufende Weiterentwicklung des dualen Bildungssystems, der Berufsbildung und der Berufsberatung ist von zentraler Bedeutung, um den Bedürfnissen und Anforderungen der Gesellschaft und der Wirtschaft gerecht zu werden. Investitionen in die duale Berufsausbildung sind als Bekenntnis zum Wirtschaftsstandort Liechtenstein zu sehen und können dem Fachkräftemangel zum Teil entgegenwirken. Es werden nicht nur Fachkräfte, sondern auch künftige Steuerzahler ausgebildet.

Die Regierung hat in der aktuellen Legislatur viele Verbesserungen im Bildungsbereich aufgegleist. Betrachtet man den Stillstand in der Legislatur zuvor, dürfen diese Bemühungen und spürbaren Fortschritte durchaus hervorgehoben und verdankt werden: Die BMS bekommt mehr Platz und eine erwachsenengerechte Infrastruktur. Der Subventionsbeitrag für Vorbereitungskurse zu Berufsprüfungen und Höheren Fachprüfungen wurde erhöht. Auch der nationale Qualifikationsrahmen, wodurch man besser auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes reagieren kann, ist eine gute Massnahme zum Wohle der Abstimmung zwischen Bildung und Wirtschaft. Die Interpellanten wollen in diesem Windschatten dieser Bildungsoffensive mit den oben gestellten Fragen einen positiven Beitrag leisten.

Die Bedeutung des dualen Bildungssystems für die Wirtschaft wiederspiegelt sich auch mit erfolgreichen Ergebnissen Liechtensteins an den WorldSkills. Hier ist lobend zu erwähnen, dass Liechtenstein einen Antrag auf Mitgliedschaft bei WorldSkills Europe stellte, um auch an den Europameisterschaften teilnehmen zu können.

Über 59% der Schulabgängerinnen und Schulabgänger wählten 2017 den dualen Berufsbildungszweig. Davon bieten Gewerbe und Industrie 69% an Lehrverhältnissen in Liechtenstein. Also ein sehr hoher Anteil von Lehrverhältnissen wird von Gewerbe und Industrie angeboten.

Mit diesem Vorstoss sollen Ansatzpunkte für eine erhöhte Bereitschaft zur Verbesserung des dualen Bildungssystems gefunden werden. Es sollen gezielt Massnahmen gesetzt werden, welche insbesondere dem Berufswahlprozess mit dem aktuellen Trend der hohen Zahl an akademischen Ausbildungen im Vergleich zur geringeren Anzahl an handwerklich Auszubildenden Rechnung tragen. Von 371 Lehrverträgen im Jahr 2017 wurden 73 als Kauffrau/-mann abgeschlossen. Die Lehrerschaft, Eltern und Amt für Berufsbildung können Einfluss auf die Berufswahl ausüben. Die Förderung und die Bewusstseinsbildung der handwerklichen Berufe im Vergleich dazu könnte verbessert werden.

Es besteht ein klarer Trend bei der „Berufswahl-Hitparade“. In Liechtenstein gibt es zwar eine Vielfältigkeit an Lehrberufen, doch konzentriert sich ein Grossteil der Schulabgänger, wie oben am Beispiel der kaufmännischen Berufe ausgeführt, nur auf einzelne davon. Es wird auch in den kommenden Jahren wichtig sein, Schülern, Eltern und Lehrpersonen die Vielfalt an Berufen und die entsprechenden Weiterentwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Eltern und Lehrpersonen spielen im Berufswahlprozess eine wichtige und entscheidende Rolle. Die Ergebnisse zeigen, dass die Schüler den Unterstützungsgrad von den Eltern und Lehrern sowie die entsprechend geführten Gespräche am Hilfreichsten einstufen. Es ist somit naheliegend, dass nicht nur die Schüler selbst von der Berufswahl überzeugt sein müssen, sondern auch deren Eltern voll dahinter stehen sollen. Um die Attraktivität und das Image einzelner Berufsgruppen aufwerten zu können wird es notwendig sein, die Eltern und Lehrpersonen von den Berufen und den Weiterentwicklungsmöglichkeiten zu überzeugen.

Experimentierlabors wie «pepperMINT» oder «FITNA Tage» welche in Zusammenarbeit mit der Schweiz durchgeführt werden, sensibilisieren in diese Richtung. Die Interpellanten schätzen die vielfältigen Angebote, die bisher bestehen: So zum Beispiel die Berufswahlvorbereitung in der Schule, die Berufsberatung, das Berufsinformationzentrum (BIZ), AGIL, next step etc. Eine verstärkte Begleitung im ersten Berufswahlentscheid ist eine grosse Koordinationsaufgabe, welche zur Zeit in den 3. und 4. Klassen der Oberstufen, sowie im freiwilligen 10. Schuljahr stattfindet und allenfalls auch mit weiteren Aktivitäten, Jugendliche bereits zu einem früheren Zeitpunkt (Primarschulstufe)  für mögliche Affinitäten sensibilisieren könnte.

In Liechtenstein lag die Maturitätsquote 2016 bei 40.0%. 2017 bei 45.8%. Damit erhöhte sie sich innerhalb eines Jahres um 5.8 Prozentpunkte. Für die Schweiz wurde im Jahr 2015 eine Maturitätsquote von 37.5% und im Jahr 2016 von 38.1% berechnet. Diese Quote liegt in der benachbarten Schweiz also wesentlich tiefer. Hierbei ist in diesem Kontext ein genereller Trend weg von Oberschule und Realschule in Richtung Gymnasialstufe ersichtlich.

2017 sind in Liechtenstein 371 Lehrverträge zur Genehmigung beim Amt für Berufsbildung eingegangen. 2016 waren es noch 392 genehmigte Lehrverträge. Dies entspricht einem Rückgang von 5%. 2017 blieben in Liechtenstein 48 Lehrstellen unbesetzt. Im Vorjahr 2016, 71 Lehrstellen. Dieser Wert liegt über dem CH Mittel von ca. 7-11%.

Firmen klagen über unbesetzte Lehrstellen und Lehrabbrüche sowie über einen hohen Kostenfaktor insbesondere bei überbetrieblichen Weiterbildungen (ÜK). Von Liechtenstein werden ÜK-Zentren subventioniert (nicht querfinanziert); aber die Problematik besteht weiter, dass die Lehrbetriebe  immer noch auf hohen Kosten sitzen bleiben (der Lehrbetrieb hat zusätzlich auch Kosten für Übernachtungen, Essen, Reisespesen zu übernehmen). Es gibt mittlerweile einige Betriebe, welche aufgrund der finanziellen Belastung nicht mehr ausbilden, dann aber vom System profitieren und ausgebildete Fachleute abwerben.

Die Lehrabbruchquote betrug 2017 in der Schweiz 20%. In Liechtenstein wurden im Vergleich nur 63 Lehrverhältnisse aufgelöst, dies entspricht einer Auflösungsquote von 5.7% (im Vorjahr 7.1%).

Das duale liechtensteinische Bildungssystem muss den laufenden Bedürfnissen angepasst werden. Wir haben ein einzigartiges System, welches dank dem aktiven Mitwirken der Betriebe, junge Leute «arbeitsmarktfähig» macht. Aber es gilt fortlaufend zu beobachten, ob sich hier ein Trend für eine Veränderung abzeichnet.

Die Interpellanten sind sich bewusst, dass das Bildungsministerium aktuell mit der Erarbeitung der Bildungsstrategie 2025 beschäftigt sind. Die Beantwortung dieser Interpellation soll auch einen konstruktiven Beitrag in der Ausrichtung hinsichtlich der Berufsbildung darstellen.

Die Interpellanten: Günter Vogt, Manfred Kaufmann,Christoph Wenaweser, Frank Konrad,  Gunilla Marxer-Kranz, Violanda Lanter, Mario Wohlwend,Thomas Vogt.