Liechtenstein unterzeichnete am 1. August 1975 die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Regierungschef Walter Kieber hatte an diesem Tag den Vorsitz dieser Institution, die in der Zwischenzeit in OSZE umbenannt wurde – Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Philatelie Liechtenstein gibt am 10. November eine dreiteilige Briefmarkens-Serie zu diesem Jubiläum heraus.
Im Kalten Krieg standen sich in Europa West und Ost als zwei festgefügte Blöcke gegenüber. Dennoch gab es Ende der 1960er-Jahre verstärkte Bestrebungen für eine Verständigung über eine Zusammenarbeit. Nach längeren Vorbereitungen war es so weit: Am 1. August 1975 trafen sich die Staats- und Regierungschefs fast aller europäischen Staaten sowie der USA und Kanadas in Helsinki, um die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, abgekürzt KSZE, zu unterzeichnen. Mit dabei auch Liechtenstein, vertreten durch Regierungschef Walter Kieber, der am Vormittag zum Vorsitzenden der Konferenz ausgelost worden war und am Nachmittag seine Unterschrift unter das Dokument setzte. «Das Los fiel auf Liechtenstein», betitelt Walter Kieber deshalb seine Erinnerungen an die Helsinki-Gipfelkonferenz.
Die KSZE-Staaten, darunter auch das Fürstentum Liechtenstein, verpflichteten sich zur Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Ebenso zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und zur Wahrung der Menschenrechte. Bei den Vorbereitungskonferenzen hatte der Ostblock den Schwerpunkt auf die Anerkennung der bestehenden Grenzen gelegt, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen worden waren. Der Westen dagegen legte grossen Wert auf Zugeständnisse des Ostens bei den Menschenrechten und der Beachtung der Grundfreiheiten.

Ledebur-Wicheln und Prinz Heinrich von Liechtenstein (v. l.) bei der KSZE Konferenz in Helsinki.
B 253.2/003/005, Quelle: Liechtensteinisches Landesarchiv Vaduz, 01.08.1975
Regierungschef Kieber zwischen Unbehagen und Freude
Die Abschlusskonferenz und die Unterzeichnung der Vereinbarungen stiessen auf ein weltweites Echo. Entsprechend optimistisch fielen die Medienberichte über den damit dokumentierten Willen der Staats- und Regierungschefs zu einem friedlichen Nebeneinander in Europa aus. Das «Liechtensteiner Volksblatt» berichtete von einem strahlenden Sommertag, der zur euphorischen Stimmung dieser Konferenz bestens passte: «Alle Konferenzteilnehmer waren über die frische Brise erfreut, die vom Meer her in die blitzsaubere Hauptstadt von Suomi wehte und die Flaggen vor dem weltberühmten Finlandia-Haus, dem eigentlichen Schauplatz der Konferenz, munter gegen den azurblauen Himmel flattern liess.» Darunter auch die blau-rote Fahne des Fürstentums Liechtenstein mit der Fürstenkrone, die laut «Volksblatt»-Bericht zusammen mit der italienischen Trikolore, der französischen Flagge und dem englischen Union-Jack aufgezogen worden war.
Regierungschef Walter Kieber, den eine der Briefmarken bei der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte zeigt, beschreibt in seinem Buch «Jahre des Aufbruchs» seine Gefühle, als er von der Ehre erfuhr, einen halbe Konferenztag die Sitzung der KSZE zu leiten. Einerseits ein gewisses Unbehagen, eine Konferenz mit den Mächtigsten der Welt zu präsidieren, «andererseits aber auch die Freude darüber, dass durch den Konferenzvorsitz unser Land als Kleinstaat sicherlich Beachtung und eine gewisse Aufwertung erhalten würde». Unter den Rednern, denen Kieber als Vorsitzender das Wort zu erteilen hatte, befand sich US-Präsident Gerald Ford. In einer Pause der Konferenz, erinnerte sich Kieber in seinem Buch, sei der Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten zu ihm gekommen und hätte ihn um ein kurzes Treffen mit Ford gebeten. Der US-Präsident habe ihm gesagt, er habe sich sehr gefreut, von einem Vertreter eines Kleinstaats an das Rednerpult gerufen zu werden. Es sei ihm wichtig, dass auch kleine Länder an bedeutenden Konferenzen teilnähmen und damit ihren Beitrag in der Völkergemeinschaft leisteten. Das bekannte Foto, das Regierungschef Walter Kieber im Gespräch mit Gerald Ford zeigt, mit Sekretärin Roswitha Gassner als aufmerksame Beobachterin, erhielt Kieber etwas später mit einer persönlichen Widmung des US-Präsidenten.
Ein neuer Geist über den Gegensätzen
Liechtenstein erhielt an der KSZE-Gipfelkonferenz aber nicht nur die grosse Ehre des Vorsitzes, von Walter Kieber als ein Glücksfall bezeichnet, wie er in seinem Buch schreibt. Er war auch aufgerufen, eine Erklärung zu diesem West-Ost-Gipfel und dessen Bedeutung abzugeben. Walter Kieber betonte in seiner Rede, die KSZE-Schlussakte seien kein Vertrag im Sinne des Völkerrechts, aber auch keine blosse Deklaration, sondern eine «bindende Erklärung darüber, was an neuem, vertrauens- und menschenwürdigem Denken und Handeln in Europa unter den gegebenen Umständen als ein Minimum in nächster Zeit in die Wirklichkeit umgesetzt werden soll.» Liechtenstein setze seine Unterschrift unter die KSZE-Akte, weil darin ein neuer Geist zum Ausdruck komme, der jenseits aller Vorurteile und Ideologien über den Gegensätzen der verschiedenen gesellschaftlichen Systemen und über den Machtblöcken stehen soll.
An das aussenpolitische Ereignis vor 50 Jahren erinnern die drei Briefmarken, die Philatelie Liechtenstein am 10. November 2025 herausgibt. Eine der Wertstufen zeigt die «Finlandia-Halle» in Helsinki, in der die Konferenz der Staats- und Regierungschefs über die Bühne ging. Eine andere zeigt die KSZE-Schlussakte, die dritte schliesslich den damaligen Regierungschef Walter Kieber, dessen Unterschrift unter dem Dokument steht. Oder wie es Philatelie Liechtenstein als Begleittext für die Jubiläumsmarken formuliert: «Als historisches Dokument für einen Meilenstein der KSZE, den gemeinsamen Konsens über grundlegende Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit.»

SgAV 11/1351/009, Fotograf: Xaver Jehle, Schaan; unbekannt, Copyright: Xaver Jehle, Schaan; Liechtensteinisches Landesarchiv, 1991–1993
«FL 5» extra nach Helsinki gebracht
Darüber, was sich rings um die KSZE-Konferenz in Helsinki sonst noch abspielte, wurde Liechtenstein vor allem durch das «Volksblatt» informiert. Dessen Chefredaktor Walter B. Wohlwend weilte als Berichterstatter in der finnischen Hauptstadt und beobachtete
insbesondere die Reaktionen auf den Vorsitz Liechtensteins an der als historisch eingestuften Konferenz. Im Pressezentrum sei der 1. August aufgrund des Liechtenstein-Vorsitzes zum «Liechtenstein-Day» umgetauft worden, berichtete er. Von einem rumänischen Medienvertreter erfuhr er, dass sich Regierungschef Kieber bei einem Empfang ausführlich mit UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim unterhalten hätte, was den Rumänen zur Frage veranlasste, ob Liechtenstein beabsichtige, bald Mitglied der Vereinten Nationen zu werden.
Die Regierung Finnlands hatte für jede Delegation eine Polizeieskorte zur Verfügung gestellt. Auf ausdrücklichen Wunsch von Regierungschef Kieber, schrieb Wohlwend in seinen «Helsinki-Splitter», hätten die Polizisten nie vor der Türe warten müssen, sondern seien jeweils mit der Delegation zu allfälligen leiblichen Stärkungen eingeladen worden. Offenbar habe sich diese Geste bei anderen Polizisten rasch herumgesprochen. Jedenfalls hätten sie den liechtensteinischen Dienstwagen mit dem Kennzeichen «FL 5» stets mit einem freundschaftlichen Winken speditiv durch den dichten Verkehr der finnischen Innenstadt gelotst.
Das Auto «FL 5» war extra nach Helsinki gebracht worden, wie Regierungschef Walter Kieber in seinen Erinnerungen schreibt: «Weil Liechtenstein das einzige Teilnehmerland war, das in Finnland keine offizielle Mission und damit auch keinen Wagenpark unterhielt, waren wir, um zur Eröffnungsfeier – so wie die anderen Staats- und Regierungschefs – offiziell vorfahren zu können und nicht etwa ein finnisches Taxi benützen zu müssen, gezwungen, das Regierungsauto «FL 5» von Vaduz nach Helsinki zu dislozieren.» Deshalb gehörte Chauffeur Werner Nigsch, neben den Diplomaten Prinz Heinrich, Graf Gerlizcy-Burian und Mario Graf von Ledebur ebenfalls der liechtensteinischen KSZE-Delegation an.
Bekanntheitsgrad Liechtensteins schlagartig gestiegen
Die Teilnahme Liechtensteins am KSZE-Prozess wurde im In- und Ausland positiv gewürdigt. Prinz Heinrich hob in einer Stellungnahme hervor, die völkerrechtliche Stellung des Landes habe eine Stärkung erfahren, weil Liechtenstein von Anfang an als vollberechtigtes Mitglied mit dabei war. Roland Marxer, der langjährige Leiter des Amts für Auswärtige Angelegenheiten, schreibt im Historischen Lexikon, Liechtenstein habe im Rahmen der KSZE die Gelegenheit genutzt, seine Fähigkeit zur Mitarbeit an internationalen Konferenzen zu beweisen, indem es sich aktiv an der Ausarbeitung der Verfahrensregeln und der Formulierung des Schlussdokuments beteiligte. Walter Kieber hält in seinen Erinnerungen an Helsinki fest, der politische Bekanntheitsgrad des Landes sei mit der Teilnahme an der KSZE schlagartig gestiegen: «Ausländische Staatenvertreter konnten sich ein konkretes Bild davon machen, dass wir trotz unserer Kleinheit willens und in der Lage waren, international mitzuarbeiten.»
Und wie wurde die KSZE-Gipfelkonferenz von den Teilnehmerstaaten gesehen? Die Beurteilung des Konferenzergebnisses sei in den westlichen Staaten unterschiedlich gewesen, schreibt Kieber: «Den einen erschien es als ein selbstbetrügerisches und schädliches Zugeständnis gegenüber der Sowjetunion, während andere ein Argument der Zuversicht ins Spiel brachten, nämlich, dass eine sich abschottende Diktatur es nicht ohne Schwächung überstehen könne, wenn sie dazu gezwungen werde, sich in der internationalen Arena zähneknirschend zu Menschen- und Bürgerrechten zu bekennen.» Die zweite Meinung habe eine richtige Voraussage enthalten, hält Walter Kieber in seiner Rückschau fest, «wenn auch Helsinki nicht der Grund für den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks war».





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