Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 hatte auch auf Liechtenstein Auswirkungen. Einerseits wurde das Land ein direkter Nachbarstaat Hitler-Deutschlands, andererseits wurden die
Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) ein Teil der Deutschen Reichsbahn. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte die Schliessung der Zugverbindung von Feldkirch nach Buchs. Ein bekränztes «Züglein» am 19. September 1945 kündigte die Wiederaufnahme des Zugverkehrs an.
Das «Züglein» Feldkirch-Buchs, das durch Liechtenstein ratterte, habe Kranz- und Blumenschmuck getragen, berichtete das «Liechtensteiner Volksblatt». Schon der erste Zug habe ein lautes Signal bei den Bahnhöfen gegeben, wohl um anzuzeigen, dass wieder neues Leben auf dieser Verkehrsader beginnt. Die Bahngesellschaft hatte für die Wiedereröffnung der Bahnlinie am 19. September 1945 beim Bahnhof in Schaan eine Feier organisiert. Der um 9.23 Uhr eintreffende Zug aus Österreich war mit den Fahnen von Liechtenstein, Österreich und der Schweiz geschmückt und ausserdem bekränzt worden. Vertreter der drei Länder trafen sich zu einem kleinen Festakt, um das Ereignis zu würdigen. Bei den Gesprächen sei es aber auch um die Bahn selbst gegangen, konnte das «Volksblatt» in Erfahrung bringen. Im neuen Fahrplan sei kein Halt des Arlberg-Express beim Bahnhof Schaan-Vaduz mehr vorgesehen gewesen, was für Liechtenstein einen Nachteil bedeutet hätte. Regierungschef Alexander Frick habe darüber mit den zuständigen Vertretern der ÖBB gesprochen und sogleich die Zusicherung erhalten, der Arlberg-Express werde künftig wieder einen Halt in Schaan einlegen.
Spionage schon während des Ersten Weltkriegs
Die Bahnlinie von Feldkirch nach Buchs, die durch einen Teil des Liechtensteiner Unterlandes und über Schaaner Gemeindegebiet führt, ist zwar nur knapp 20 Kilometer lang. Aber auf dieser Strecke verkehrten seit der Eröffnung im Jahr 1872 die internationalen Züge von West nach Ost und umgekehrt. Schon während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) kam es auf dieser Strecke zu Störungen, weil Österreich die Kontrollen für den Grenzübertritt in die neutrale Schweiz massiv verschärft hatte. Laut Berichten in den Zeitungen kam es immer wieder zu Behinderungen, manchmal gar zu längeren Unterbrüchen von mehreren Tagen. Der Bahnkorridor ist offensichtlich intensiv für Spionagetätigkeiten benützt worden, die man zu unterbinden versuchte. All diese Einschränkungen hatten teilweise negative Auswirkungen auf das Leben in Liechtenstein: in Form von Behinderungen beim Warenaustausch, bei der Fahrt zu den Arbeitsplätzen in Österreich, letztlich auch für persönliche Besuche über die Grenze hinweg.
In der Zwischenkriegszeit kehrte wieder Ruhe ein, doch im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs erregte die Bahnstrecke erneut das Interesse unterschiedlicher Personengruppen, wie der Historiker Peter Geiger in einer Abhandlung über den Eisenbahnverkehr in Liechtenstein geschrieben hat. Viele Freiwillige, die im Spanischen Bürgerkrieg die republikanisch-sozialistische Seite unterstützten, seien ursprünglich von Österreich über die «grüne Grenze» nach Liechtenstein gekommen und anschliessend in die Schweiz weitergezogen. Ab Oktober 1937 hätten diese Spanienkämpfer einen bequemeren Weg gewählt, nämlich die Eisenbahn von Feldkirch nach Buchs. Um das eigentliche Ziel ihrer Reise zu kaschieren, hätten sie eine Fahrkarte nach Paris gekauft, um die Weltausstellung zu besuchen. In Wirklichkeit aber reisten die Freiwilligen von der französischen Hauptstadt direkt nach Spanien, um im Bürgerkrieg zu kämpfen.
Entlang der Bahnlinie hatte es am meisten Nationalsozialisten
Bei seinen Recherchen über Liechtenstein im Zweiten Weltkrieg fand Peter Geiger heraus, dass die Bahnlinie eine gewisse Rolle auch beim Einfliessen von Nazi-Gedankengut spielte. «Es fällt auf», schrieb Geiger darüber, «dass gerade in den Ortschaften entlang der Bahnlinie verhältnismässig am meisten Nationalsozialisten zu finden waren, nämlich in Schaan, in Nendeln und in Schaanwald.» Die Schienen hätten offensichtlich einen doppelten Zweck erfüllt, einmal für die Eisenbahn selbst, aber ebenso als Schienen «für den Import von NS-Ideen und NS-Einfluss». Etliche Liechtensteiner waren in dieser Zeit bei den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) beschäftigt, die – wie bereits erwähnt – ab 1938 zur Deutschen Reichsbahn wurde. Selbstverständlich seien nicht alle «Bähnler» aus Liechtenstein «braun» gewesen, schränkt Geiger ein, aber eine Reihe von ihnen habe eine bedeutende Rolle in der «Volksdeutschen Bewegung» gespielt, die den Anschluss Liechtensteins an Hitler-Deutschland zum Ziel erklärt hatte. Eine Statistik aus dem Jahr 1942 registrierte 347 Arbeitskräfte aus Liechtenstein, die täglich zu einem Arbeitsplatz nach Vorarlberg mit der Bahn fuhren: Davon waren 136 bei der Deutschen Reichsbahn beschäftigt.
Nach dem Anschluss Österreichs verfügte Deutschland mit der Bahnlinie durch Liechtenstein über eine Bahnstrecke, die direkt ins neutrale Ausland führte – nach Buchs. Sowohl die Bahnlinie als auch der Bahnhof Buchs wurde offenbar intensiv von deutscher Seite für militärische, wirtschaftliche und politische Spionage benutzt. Wie die Schweizer nach dem Krieg feststellten, sei vor allem der Bahnhof Buchs ein ständiger Treffpunkt für Spione gewesen, die für Deutschland arbeiteten. Ins Visier der Agenten gelangten offenbar auch Grenzgänger, die für Kurierdienste zugunsten Deutschlands angeworben wurden.
Carl Zuckmayer flieht über Liechtenstein in die Schweiz
Aber nicht nur der Arbeit der Spione und Agenten diente die Bahnlinie, auch Flüchtlinge und vom Deutschen Reich Verfolgte gelangten mithilfe der Bahn und der Bahnstrecke über Liechtenstein ans Ziel ihrer Hoffnung – in die neutrale Schweiz. Nach Darstellung von Peter Geiger überschritten viele jüdische Flüchtlinge ohne Ein- und Durchreisepapiere die «grüne Grenze» nach Liechtenstein. Manche im Schutz der Dunkelheit von Feldkirch oder Tisis dem Bahndamm entlang nach Schaanwald: Einmal in Liechtenstein angekommen, war es nicht mehr schwierig, in die Schweiz zu gelangen.
Im Buch «Krisenzeit – 1928 – 1939» schildert Peter Geiger die Flucht des Schriftstellers Carl Zuckmayer über Liechtenstein in die Schweiz. Zuckmayer (1896–1977), der mit seinem Roman «Der Hauptmann von Köpenick» einen literarischen Erfolg hatte, war im Deutschen Reich wegen seiner Opposition gegen die Nationalsozialisten in Ungnade gefallen. Anfang der 1930er-Jahre floh Zuckmayer nach Österreich, wo er sich aber nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 nicht mehr sicher fühlte und den Weg in die Freiheit wählte. Zuckmayer setzte sich am 16. März 1938 in Wien in den Zug nach Feldkirch – und von dort durch Liechtenstein in die Schweiz. Geiger schreibt, Zuckmayer sei dem «Wiener Hexenkessel im letzten Augenblick entronnen». Im Bahnhof Feldkirch habe der Schriftsteller in der Nacht ausführliche Kontrollen durch die Gestapo über sich ergehen lassen, die er «dank köpenickscher Kaltblütigkeit» aber überstehen konnte. Der Frühzug transportierte Zuckmayer durch Liechtenstein, wie er in einem seiner Werke beschrieb, sei der Himmel «glasgrün und wolkenlos» gewesen – und «die Sonne flimmerte auf dem Fernschnee». Auf dem Weg in die Freiheit sei ihm trotzdem ein Gedanke gekommen: «Ich werde mich nie mehr freuen!» Ein Jahr nach seiner Flucht in die Schweiz reiste Zuckmayer nach Amerika aus und nahm dort die US-Staatsbürgerschaft an, kehrte aber 1946 nach Europa zurück. Die Zeit von 1957 bis zu seinem Tod 1977 lebte Carl Zuckmayer in Saas-Fee in der Schweiz. Liechtenstein, das er bei seiner Flucht kurz gestreift hatte, geriet bei ihm aber nicht in Vergessenheit: Er war befreundet mit dem in Liechtenstein lebenden Verleger Henry Goverts, den er gelegentlich besuchte.




