Zunehmend wenden sich Staaten vom (institutionalisierten)
Völkerstrafrecht ab. Ein Rückschritt?

Text: Georges Baur, Forschungsleiter Recht am Liechtenstein-Institut

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht auch die Frage im Raum, wie die im Zusammenhang mit diesem Krieg begangenen Kriegsverbrechen geahndet werden sollen. Im Vordergrund stehen die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine, wie z. B. in Butscha oder Irpin.

Vor 80 Jahren, mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, wurde erstmals versucht, Kriegsverbrechen, Völkermord, «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» usw. auf der Grundlage des Rechts durch Gerichtsverfahren zu ahnden. Es war der Versuch, die Verbrechen in einem rationalen und geregelten Verfahren im Namen der Völkergemeinschaft abzuhandeln. Zum einen haben diese Verbrechen Auswirkungen über einen einzelnen Staat hinaus und die Völkergemeinschaft hat damit ein Interesse an einer strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen. Zum anderen ist die nationale Justiz in solchen Fällen zumeist nicht willens oder fähig, derartige Verbrechen zu verfolgen und die entsprechenden Verfahren durchzuführen. Soweit noch existent, besteht die Gefahr, dass sich die Angehörigen des Staatsapparats der Verantwortung entziehen. Würden sie aber – trotz erwiesener Schuld – straflos davonkommen, wäre dies eine Verletzung der universell geltenden Menschenrechte ihrer Opfer. Schliesslich hat ein derartiges Verfahren, wie es 1945 in Nürnberg gegen die führenden Vertreter des NS-Regimes durchgeführt wurde, idealerweise auch eine «erzieherische» Wirkung: Zum einen werden die Gräuel durch die Beweisführung, Zeugenaussagen, Dokumente etc. in aller Öffentlichkeit bekannt und sind damit schwerer zu leugnen. Zum andern erlauben sie im Idealfall eine Aufarbeitung der Vergangenheit, wie dies in Deutschland – allerdings erst mit der Verzögerung um eine Generation – begonnen hat.

Die Alternative zu diesem Modell konnte ebenfalls vor 80 Jahren in Italien, dem Verbündeten Nazi-Deutschlands, beobachtet werden: Am 28. April 1945 wurden der ehemalige Diktator Benito Mussolini, seine Geliebte Clara Petacchi sowie 13 Getreue erschossen und an einer Tankstelle am Piazzale Loreto in Mailand aufgehängt. Damit war wohl in den Augen vieler Italiener Sühne getan. Dies mag auch ein Grund dafür sein, weshalb in Italien bis heute keine nennenswerte Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit und der Beteiligung am Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat.

Wieso beschäftigt uns das heute noch? Die letzten Überlebenden sind bald alle tot und die Mörder auch. Nur: Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war ja keineswegs Schluss mit dem Morden und Sühnen-Wollen. Nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse wurden weitere Tribunale zur Sühne von Völkermorden eingerichtet, z. B. betreffend Kambodscha, Rwanda oder Ex-Jugoslawien. Diese Praxis, Völkermorde und «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu verfolgen und die dafür Verantwortlichen abzuurteilen, führte letztlich zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag. Diesen hatte Liechtenstein mit initiiert.

Zunehmend wenden sich aber Staaten vom ICC ab, wie das Beispiel des Austritts Ungarns zu Beginn des Monats April belegt. Staaten wie Russland, China, Indien oder die USA sind ohnehin keine Mitglieder. Weitere Austritte könnten folgen.

Natürlich sind auch die Völkerrechtsstrafverfahren immer wieder fehlerhaft oder führen nicht zum idealerweise gewünschten Resultat. Das können sie auch nicht. Jurisprudenz ist nun einmal Menschenwerk und dementsprechend fehleranfällig. Aber ist das jetzt das Ende der völkerrechtsbasierten Verfolgung von Kriegsverbrechen? Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, z. B. Putin zu verhaften, gering ist, würde er überhaupt vor Gericht gestellt? Bliebe dann eben nur, ihn auf dem Piazzale Loreto in Mailand aufzuhängen, wenn man seiner habhaft würde? Dies würde vielleicht Rachegelüste befriedigen, wäre aber definitiv ein Rückschritt.