«Ich bin in eine Pferdefamilie hineingeboren»

Von 2013 bis 2018 startete die Dressurreiterin Léonie Guerra für die Schweiz an internationalen Wettkämpfen. Dann entschied sie sich zum Nationenwechsel nach Liechtenstein. Sie sagt: «Ich bin hier geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ich bin hier zu Hause und will für mein Heimatland an den Start gehen.»

Schon in jungen Jahren kam Léonie Guerra in Kontakt mit dem Dressursport. «Ich bin in eine Pferdefamilie hineingeboren worden. Dank meines Grossvaters Otto Hofer, der sehr erfolgreich war, habe ich seit meiner Geburt Pferdeluft geschnuppert. Schon als Baby, sobald ich den Kopf halten konnte, hat mich meine Mutter vorne auf den Pferdesattel zum Grossvater gesetzt. Wenn man mich runternehmen wollte, habe ich geschrien», erinnert sich Guerra an ihre Anfänge. Ihre Passion zum Pferd kam früh zustande. «Meine erste Heimat war eine Wohnung im Stall, deshalb hatte ich keine Lust, andere Sportarten auszuüben», sagt Guerra, die als Vierjährige erstmals auf einem Pony ritt. Ihr Grossvater, der Olympiamedaillen für die Schweiz gewonnen hatte, zeigte viel Feingefühl: «Er hat mir schon in jungen Jahren viel Freiraum gegeben, um selbst die Pferde für mich zu entdecken. Damit die Liebe zu den Tieren erhalten bleibt, übte er keinen Druck auf mich aus.» Mit acht Jahren ist sie vom Pony auf die Grosspferde umgestiegen. Als Zehnjährige hat sie sich auf den Dressursport spezialisiert. «Seit jenem Zeitpunkt trainieren wir fast tagtäglich zusammen. Seine Methodik und seine Einstellung mit Fairness zum Pferd haben mich sehr stark geprägt», sagt Löonie Guerra.

«Das gegenseitige Vertrauen ist das A und O»
Im Pferdesport (Dressur und Sprung) bilden Mensch und Tier eine Einheit, wobei das gegenseitige Vertrauen immens wichtig ist. «Es ist das A und O, denn das Pferd ist von Natur aus ein Fluchttier. Wenn es sich nicht sicher ist, ergreift es die Flucht. Deshalb muss das Vertrauen täglich mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen aufgebaut werden. Wenn das Pferd eine schlechte Erfahrung gemacht hat, benötigt man viel mehr Zeit, um das Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Deshalb ist es wichtig, sich keine Fehler zu erlauben, keine Gefühlsausdrücke zu zeigen, sondern sich gegenüber dem Pferd stets gleich zu verhalten. Das versteht das Tier, Höhen und Talfahrten indes nicht», sagt die 22-Jährige. 

«Das Ballet mit dem Pferd»
Ausdauer, Konzentration, Balance und Eleganz sind wichtige Leistungen, die sowohl vom Reiter als auch vom Pferd erbracht werden müssen. «Das Dressurreiten ist das Ballet mit dem Pferd. Eine Balletttänzerin besitzt extreme Kraft, um die Bewegungen leicht aussehen zu lassen. Beim Dressurreiten ist es ebenfalls so: Vom Reiter sollten keine Kommandos zu sehen sein. Es sollte aussehen, als wenn das Pferd alles alleine ausführt und die Reiterin lediglich oben sitzt. Dann hat man alles richtig gemacht. Wenn man zu viel handwerkt, ist man kein gefühlvoller Reiter», sagt Guerra. Daraus entstehe die Harmonie. Der Fleiss sei wichtig. Es reiche nicht, sich nur einmal pro Woche dem Pferd zu widmen. «Auch ausserhalb des Trainings beschäftige ich mich mit dem Tier. Zudem ist die Pferdepflege wichtig, um die Beziehung aufzubauen. Einfühlungsvermögen ist ein Muss, denn man muss sich ins Lebewesen hineinfühlen. Und Geduld ist das Wichtigste, denn es handelt sich um ein Lebewesen und keinen Gegenstand.»

Nach sechs Jahren im Wettkampf
Dressurpferde werden drei- und vierjährig – nachdem das Wachstum abgeschlossen ist – angeritten. Danach wird ihnen sozusagen das A, B, C gelehrt. «Wenn man mit dem Schenkel Druck ausübt, lernen sie beispielsweise, dass sie nach links, rechts oder vorwärts gehen müssen», so Guerra. Sieben-, achtjährig werden die Dressurpferde in die einzelnen Lektionen eingeführt. «Nach sechs Jahren Aufbauarbeit sollten sie im Alter von neun, zehn Jahren alles beherrschen», sagt die Schaanerin. Für den Spring- und Dressursport sind vor allem die Warmblüter bestens geeignet. In Europa gibt es gute Zuchtpferde, die besonders für den Reitsport geeignet sind. «Die Dressurpferde sind etwas schwerer als die Springpferde. Es sind Kraftsportler, die ihr eigenes Gewicht tragen und leicht ausschauen lassen können. Dafür ist mehr Muskelmasse notwendig.» Léonie Guerra suchte nie die Geschwindigkeit, die Action oder auf Zeit Höchstleistungen zu erbringen, wohl deshalb fühlt sie sich im Dressurviereck besonders wohl. «Die Perfektion in der Ruhe spricht mich an», sagt sie, die in jungen Jahren auch einmal eine Springprüfung absolviert hat. Pro Halbjahr absolviert sie aus Spass einen Springparcours.

Erfolgreiches Jahr 2022: Sechste in der Weltrangliste
Sportlich lief das Jahr 2022 nach ihrem Gusto. In der Altersklasse U25 belegt Léonie Guerra in der Weltrangliste Rang sechs. «Ehrlich gesagt, mit dieser Klassierung sind alle unsere Erwartungen übertroffen worden, da ich im Vorjahr noch in der Altersklasse U21 gestartet bin. Schon nach den ersten drei Turnieren konnte ich mir eine Top-10-Klassierung sichern», freut sich Léonie Guerra. Bei ihren Wettkämpfen in San Giovanni (It), Ornago (It), Stadi-Paura (A) und St. Margarethen (A) realisierte sie mehrere Podestklassierungen.

Pech hatte die Oberländerin, dass sich im Juni ihr zwölfjähriger Wallach Dharkan eine Verletzung, eine Sehnenzerrung am Vorderbein, zugezogen hat. «Er hatte nie Schmerzen, erhielt ausreichend Zeit für seine Schonung, damit er komplett erholt zurückkehren konnte», sagt Guerra. Vier Monate verzichtete sie auf das gewohnte Training und die Wettkämpfe – verpasste deshalb die EM. Sie ritt stattdessen mit ihrem Wallach täglich reduziert 45 Minuten lediglich Schritte, damit das Pferd keine Probleme mit dem Verdauungstrakt bekam. Auch die Nachwuchspferde Galina (8), Beryll (6) und Donovan (7) stehen unter ihrer Obhut, wobei das jüngste Pferd, Beryll, in Deutschland bei einer erfahrenen Reiterin das kleine Einmaleins erlernt. «Da ich in meinem Alltag nicht ausreichend Zeit finde, um ein junges Pferd zu betreuen, zumal es zeitaufwendiger ist. Im Alter von 8 Jahren wird sie zu uns stossen», sagt Guerra. Galina wird im kommenden Jahr das U25-Level erreichen. Donovan steht erst seit einigen Wochen im Stall von Léonie Guerra: «Es dauert wohl ein Jahr, bis wir uns als Gespann – Reiterin und Pferd – finden. Deshalb ist vorerst viel Training angesagt.» Fünf, sechs Trainings pro Woche sind es, davon jeweils eine Stunde für jedes Pferd, sodass Guerra auf 15 bis 20 Stunden pro Woche kommt.

«Zeit in der U25 auskosten»
Der schulische Werdegang der 22-Jährigen verlief über die Formatio Privatschule in Triesen. «Ich habe jene Zeit genossen, weil die Verantwortlichenie mir entgegengekommen sind, um individuell trainieren zu können», erinnert sich Léonie Guerra gerne zurück. Im Alter von 13 bis 18 Jahren zählte sie sportlich zum Schweizer Dressur-Nachwuchsteam. «Als junger Mensch war es mir wichtig, einer Clique anzugehören. Dort war ich sehr gut eingebettet – ein schönes Mannschaftsgefühl, das ich sehr genossen hatte. Doch mit 18 Jahren bin ich in mich gekehrt. Ich bin in Liechtenstein geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ich bin hier zu Hause und will für mein Heimatland an den Start gehen.» Der Start an den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris (Fr) komme für sie noch zu früh. «Ich will meine Zeit in der Altersklasse U25 noch auskosten. Mit den Grossen, den Dressurlegenden, will ich mich erst messen, wenn die Zeit reif ist. Das Level habe ich zwar jetzt schon, denn Grand Prix ist Grand Prix, vorerst will ich mich aber mit den Gleichalterigen messen», sagt Léonie Guerra, die aktuell die Ausbildung als erste Lehrtochter beim LOC absolviert: «Es ist eine Ehre für mich, dass ich diese Chance erhalten habe. Es ist wertvoll, dass ich dort ausreichend Zeit erhalte, um mein Pensum zu bewältigen.» Sie bezeichnet ihr Engagement zwischen Sport und Ausbildung sozusagen als halbprofessionelle Lösung: «Die Arbeit im Büro sehe ich als wichtigen Ausgleich im Alltag. Grundsätzlich spricht aber nichts dagegen, eines Tages als Profi den Dressursport auszuüben.»