Das Liechtensteiner Stimmwunder

Dr. Thomas Milic Forschungsbeauftragter Politik am Liechtenstein-Institut

Wenn Schweizerinnen und Schweizer von Wahlen und Abstimmungen in Liechtenstein lesen, staunen sie über einen Wert immer wieder: Die Beteiligungsquote. Regelmässig werden bei Liechtensteiner Wahlen und Abstimmungen Partizipationsraten von 70 bis 80 Prozent erzielt.

Zum Vergleich: Bei den Schweizer Nationalratswahlen beteiligt sich in der Regel gerade einmal die Hälfte der Stimmberechtigten. Wenn sich, wie bei der Abstimmung vom 28. November 2021, rund 65 Prozent beteiligen, dann ist in der Schweiz bereits euphorisch von einer «massiven Mobilisierung» die Rede. Die EWR-Abstimmung von 1992 wird in der Schweiz gar als «Jahrhundertabstimmung» bezeichnet, weil sie sagenhafte 78,7 Prozent der Stimmberechtigten an die Urnen lockte. In Liechtenstein beteiligten sich bei der letzten Landtagswahl praktisch gleich viele (78 Prozent), und kaum jemand wunderte sich hierzulande gross darüber. Wie ist das Liechtensteiner Stimmwunder zu erklären?

Wenn wir die Beteiligung in Liechtenstein mit derjenigen der Deutschschweizer Kantone historisch vergleichen, fallen verschiedene Dinge auf: Bis in die 1930er-Jahre sind die Differenzen gering. Danach gehen die Beteiligungsraten auseinander. Diese Beteiligungskluft vertieft sich 1971 schlagartig: Dannzumal wurde in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt. Das Frauenstimmrecht folgte in Liechtenstein erst 1984, hatte aber – im Gegensatz zur Schweiz – nur einen vergleichsweise geringfügigen Rückgang der Wahlbeteiligung zur Folge. Auffallend ist zudem, dass ein Schweizer Kanton eine vergleichbare Stimmbeteiligungsentwicklung durchgemacht hat wie Liechtenstein, zwar nicht auf dem gleich hohen, aber auf einem immerhin vergleichbaren Beteiligungsniveau. Dieser Kanton ist Schaffhausen. Schaffhausen hat viele Ähnlichkeiten mit Liechtenstein (Sprache, Bevölkerungszahl, Urbanisierungsgrad, direkte Demokratie, Kollegialregierung etc.), aber das haben andere Deutschschweizer Kantone auch. Einzigartig ist Schaffhausen, weil er der einzige Schweizer Kanton ist, der nach wie vor eine Stimm-pflicht kennt. Erst kürzlich wurde die Busse für einen verpassten Urnengang von 3 auf 6 Franken erhöht. Diese Stimmpflicht beschert Schaffhausen regelmässig die mit Abstand höchsten Beteiligungsraten in der Schweiz.

Die Schaffhauserinnen und Schaffhauser selbst sagen, dass ihre hohe Partizipation nicht primär auf die Busse als solches zurückzuführen sei, sondern darauf, dass die Beteiligung stärker als anderswo als «erste Bürgerpflicht» wahrgenommen werde. Der Umstand, dass die Beteiligung als gesetzliche Pflicht festgeschrieben sei, helfe zwar. Aber die hohen Beteiligungsraten seien das Resultat einer Sozialisation, welche die regelmässige Teilnahme als selbstverständlich erscheinen lasse. Liechtenstein kennt keinen sanktionierten Stimmzwang. Aber diese Pflicht zur politischen Teilnahme wird hierzulande ähnlich wie in Schaffhausen von Generation zu Generation «weitervererbt», ohne aber dass eine rechtliche (und sanktionierte) Stimmpflicht dabei ein wenig «nachhelfen» muss. Wie genau geschieht dies? Auf vielfältige Art und Weise. Beispielsweise mithilfe der Tradition der Jungbürgerfeier. Dort werden die gerade erst Volljährigen im Kreis der Stimmberechtigten willkommen geheissen und dabei auch auf die «Bürgertugend des Wählens» aufmerksam gemacht. In Liechtenstein ist dies ein grosser, landesweiter Anlass, in feierlicher Atmosphäre, wo meist der Regierungschef zugegen ist. Solche Jungbürgerfeiern gibt es auch in der Schweiz, aber kaum je wird es so zelebriert wie hierzulande. Die Feiern sind lokal, werden eher mässig besucht und den Bundesrat sucht man auch vergebens. Der Einstieg in das politische Leben findet weniger feierlich statt. (Manche) Menschen brauchen aber auch eine Aufforderung zur politischen Teilnahme. Und in Liechtenstein gelingt dies offensichtlich gut und ohne sanktionierten Stimmzwang.