Stufengerechte Verteilung der Verwaltungskompetenzen

Beck Cyrus

Das Kollegialprinzip ist das wichtigste Regierungsprinzip der Verfassung von 1921. In einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft wurde es aber zunehmend faktisch und rechtlich relativiert, sodass es im Jubiläumsjahr grundsätzlich überdacht werden sollte.

Die neue, im Oktober 1921 in Kraft getretene Verfassung Liechtensteins stellt eine Revision der Konstitutionellen Verfassung von 1862 dar und veränderte deren Mechanik beträchtlich. So wurde vor allem das monarchische Prinzip, nach welchem die gesamte Staatsgewalt dem Fürsten allein zukam, beseitigt und durch einen Dualismus von Fürst und Volk ersetzt. Hinzu kamen etwa die direktdemokratischen Elemente der Volksinitiative und des Referendums, und die Gerichtsbarkeit wurde um ein Verfassungsgericht, den Staatsgerichtshof, erweitert. Schliesslich wurde die Regierung als eigenes Staatsorgan geschaffen. Damit war die neue Regierung nicht länger eine aus einigen Bediensteten des Landesfürsten bestehende und nur dessen Willen vollziehende Behörde, sondern eine aus eigenem Recht agierende Staatsleitung, eingesetzt durch Fürst und Volk.

Die Regierung als einzige Verwaltungsbehörde
Nach einer gängigen Unterteilung der Staatsgewalten wird zwischen der Gesetzgebung, der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung unterschieden. Letztere, die als Exekutive auch als «Regierung» bezeichnet werden kann, hat zwei Funktionen: Einerseits stellt sie das dynamische Steuerungsorgan der Staatstätigkeit dar, indem sie Initiativen ergreift und lenkt, um die Staatsziele zu verfolgen. Andererseits ist die Regierung im eigentlichen Bereich der Verwaltung – dem Gesetzesvollzug – als oberste Verwaltungsbehörde rein vollziehend tätig.

Die Gesamtzuständigkeit der Regierung, vor allem des Regierungschefs, für die Landesverwaltung änderte sich 1921 allerdings nicht. Wie schon etliche Generationen zuvor der Landesverweser war der Regierungschef für jede Verwaltungsaufgabe zuständig, vom einfachen Unterstützungsgesuch einer Privatperson bis zur Katastrophenbekämpfung im Gesamtstaat. Etwas entlastet wurde der vollamtliche Regierungschef durch nebenamtliche Regierungsräte und einen sehr bescheidenen Verwaltungsunterbau mit einer Handvoll Fachmänner.

In einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft wurde naturgemäss auch die Landesverwaltung in den folgenden Jahrzehnten erweitert, so zum Beispiel um die Steuerverwaltung (1923), das Bauamt (1924), das Passbüro (1947) und den Pressedienst (1960). Nichtsdestotrotz stellte Anfang der 1960er-Jahre der Staatsgerichtshof auf Anfrage der Regierung in einem Gutachten die Verfassungslage dahingehend fest, dass eben nur die Regierung eine Verwaltungsbehörde sein konnte und alle weiteren Amtsstellen keine eigentlichen Behörden, sondern nur Hilfsorgane der Regierung waren. Insbesondere konnten auch keine Kommissionen mit Behördencharakter, also mit Entscheidungsbefugnissen, bestehen. Allerdings waren faktisch zum Beispiel mit der Landesgrundverkehrskommission, der Landessteuerkommission (1923) oder der Tuberkulosekommission (1941) solche Behördenkommissionen bereits eingerichtet worden.

1) Die gesamte Landesverwaltung wird unter Vorbehalt der nachfolgenden Bestimmungen dieses Artikels durch die dem Landesfürsten und dem
Landtag verantwortliche Kollegialregierung
in Gemässheit der Bestimmungen dieser Verfassung und der übrigen Gesetze besorgt.

Art. 78 Abs. 1 Landesverfassung (LGBl. 1921 Nr. 15)

Verfassungsrevisionen
Um das Verfassungsrecht den faktischen Bedürfnissen einer ausdifferenzierten und selbstständig entscheidenden Landesverwaltung anzupassen, wurde mit einem Verfassungsgesetz von 1963 Art. 78 der Verfassung um drei neue Absätze erweitert. Neu konnten Amtspersonen, Amtsstellen oder Besonderen Kommissionen per Gesetz bestimmte Geschäfte zur selbstständigen Erledigung übertragen werden und Besondere Kommissionen konnten an Stelle der Regierung als Verwaltungsbeschwerdeinstanzen wirken. Zudem bestand verfassungsrechtlich neu die Möglichkeit, gesetzlich Besondere Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts zur Besorgung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Aufgaben zu errichten. Letztere werden gemeinhin als «Landesinstitute» bezeichnet.

Dem Nachholbedarf an Verwaltungsbehörden wurde in den folgenden Jahrzehnten durch die Schaffung verschiedener Einheiten begegnet. Als die zeitliche und thematische Bandbreite bezeichnende Beispiele seien nur die Berufsberatungsstelle (1965) und die Botschaft in Berlin (1999) genannt. Dieser weitere Ausbau der Landesverwaltung mit einer Vielzahl von gesetzlich delegierten Verwaltungskompetenzen stellt aber mit dem Kollegialprinzip das nach wie vor wichtigste Regierungsprinzip zunehmend infrage. Gemäss Art. 78 Abs. 1 der Landesverfassung wird nämlich die gesamte Landesverwaltung durch die Kollegialregierung besorgt.

Doch damit nicht genug. Das Kollegialprinzip nach der Landesverfassung von 1921 besagt zudem, dass die Regierungsmitglieder in erster Linie Mitglieder des Kollegiums Regierung und erst in zweiter Linie jeweils für ein Ministerium (früher Ressort) verantwortlich sind. In ihrer ursprünglichen Fassung sah die Verfassung nur diese kollegiale, also gemeinschaftliche Behandlung aller Geschäfte vor. Die im ursprünglichen Art. 84 der Verfassung vorgesehene, ressortmässige Geschäftsbehandlung durch die Regierung war somit nur als vorbereitende Tätigkeit durch einzelne Regierungsmitglieder zu verstehen. Im Jahr 1965 wurde allerdings parallel zum 1963 revidierten Art. 78 auch Art. 90 der Verfassung erweitert. Neu konnten sogenannte «minder wichtige Geschäfte» durch Gesetz dem ressortmässig zuständigen Regierungsmitglied zur selbstständigen Erledigung übertragen werden.

In der liechtensteinischen Rechtsordnung sind bis zum heutigen Tag nicht viele Delegierungen von Verwaltungskompetenzen an einzelne Regierungsmitglieder zu finden. Allerdings finden sich einige Delegierungen, die zumindest als verfassungsrechtlich problematisch erscheinen, da sie keine «minder wichtigen Geschäfte» darstellen. Als Beispiele zu nennen sind die Aufsicht über die Landespolizei sowie die Organisation und Führung des Landesführungsstabs.

Mitglieder der Liechtensteiner Regierung von 1921: (v.l.) Josef Marxer, Regierungschef Josef Ospelt,
Oskar Bargetze. Foto: Landesarchiv LI LA B 222/005/001

Das Jubiläum als Chance
Im Jahr 2012 folgte die bislang letzte grosse Verwaltungsreform in Liechtenstein. Mit der Schaffung von fünf fixen Ministerien und sechs fixen Geschäftsbereichen wurde gesetzlich die überkommene freie Gestaltung der Ressorts durch die Regierung beendet. Die Schaffung dieses Ministerialsystems festigte die eigenen Wirkungsbereiche der einzelnen Regierungsmitglieder und relativierte das Kollegialprinzip weiter, wie schon die Ergänzungen der Art. 78 und 90 der Verfassung fast 50 Jahre zuvor. 

Im Ergebnis lässt sich sagen, dass die faktische und rechtliche Relativierung des verfassungsrechtlichen Kollegialprinzips und somit der Zuständigkeit der Regierung als Kollegium für die gesamte Landesverwaltung seit dem Inkrafttreten der Verfassung andauert. Ein Umstand, der in einem prosperierenden Staat wie dem Fürstentum Liechtenstein auch nicht verwundert, sondern geradezu notwendig ist. Dennoch wurde vom Kollegialprinzip in 100 Jahren nie abgerückt.

Letzteres erstaunt umso mehr, als die rechtspolitische Meinung, dass sich die Regierung mehr auf ihre politische Funktion als dynamisches Steuerungsorgan der Staatstätigkeit und weniger auf ihre Funktion als oberstes Verwaltungsorgan konzentrieren können sollte, im Grundsatz durchgehend geäussert wurde. So zum Beispiel bereits von Wilhelm Beck im Kommissionsbericht zum Landesverwaltungspflegegesetz im Jahr 1922 oder vom ehemaligen Regierungschef Walter Kieber in seinem Aufsatz «Regierung,
Regierungschef, Landesverwaltung» von 1994.

Das Jubiläum 100 Jahre Verfassung ist auch eine Chance, über Änderungen nachzudenken. Statt des Kollegialprinzips wäre eine verfassungsrechtliche Gesamtzuständigkeit der Behörden der Landesverwaltung für sämtliche Verwaltungsgeschäfte auf Landesebene im Sinne einer stufengerechten Verteilung der Verwaltungskompetenz durchaus angemessen. Hinzutreten sollte allerdings funktionsgerecht das verfassungsmässige Recht der Regierung, Geschäfte von politischer Tragweite an sich zu
ziehen.