Coronavirus und vermeintliche europäische Gewissheiten

Dr. Georges Baur Jurist, Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut

Es ist derzeit schwierig, nicht über den Coronavirus zu schreiben. Die Seuche greift in alle Bereiche unseres Lebens ein. Lieb gewordene Gewissheiten werden über den Haufen geworfen und unsere Flexibilität wird strapaziert. Auch die Politik und das Recht sind betroffen. So werden Parlamentssitzungen nicht mehr im Landtagsgebäude abgehalten und die Öffentlichkeit von den Sitzungen ausgeschlossen oder die Medikamentenabgabe eingeschränkt und der Landesbank ausserordentliche Liquiditätsgarantien gewährt, damit sie dem Gewerbe Überbrückungskredite zur Verfügung stellen kann.

Diese Erschütterung erfasst nun auch die Europapolitik. Egal, was man von der EU hielt, es stand doch zumeist eines fest: Der Binnenmarkt funktioniert. Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen bewegen sich ungehindert innerhalb der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). In letzter Zeit hat sich gezeigt, dass auch diese vermeintliche Gewissheit nicht mehr in Stein gemeisselt ist. EU-Mitgliedstaaten schlossen ihre Grenzen, um in Zeiten der Pandemie Personen daran zu hindern, unkontrolliert einzureisen und damit den Virus weiterzuverbreiten. Im Rahmen der Schengen-Kooperation ist dies durchaus zulässig, vor allem wenn es darum geht, die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit zu schützen. Allerdings müssen zuvor die anderen Vertragsparteien und die EU-Kommission konsultiert werden. Zudem darf der freie Warenverkehr nicht beeinträchtigt werden. 

Die westeuropäischen Staaten konsultierten einander zwar, bevor sie Grenzkontrollen einführten. Doch wurden zeitgleich für gewisse Produkte, die aus nationaler Sicht als vital für die Eindämmung der Pandemie angesehen werden, wie z.B. Schutzmasken, Ausfuhr- und sogar Durchfuhrverbote erlassen. Davon waren nicht zuletzt die Schweiz und damit auch Liechtenstein betroffen. Zentraleuropäische Staaten, wie z.B. Ungarn, erliessen kurzfristig und ohne jede Konsultation Grenzschliessungen, was zu immensen Staus führte und Bürger weiter östlich gelegener Staaten lange an den Grenzen blockierte. Zudem wurden auch die Ein- und Ausfuhr von Waren zum Erliegen gebracht. Es bedurfte einiger zwischenstaatlicher Konferenzen und Koordinationsbemühungen seitens der EU-Kommission, um die Blockaden wieder aufzulösen. Nach dem ersten Schreck über die negativen Folgen der Abschottung haben die EU-Mitgliedstaaten nun einer EU-Verordnung zugestimmt, welche den Binnenmarkt schützen und den freien Warenverkehr auch während der Corona-Pandemie sicherstellen soll. Die EFTA-Staaten und die europäischen Kleinststaaten sind wegen ihrer engen Anbindung an den Binnenmarkt mitumfasst.

Die Corona-Pandemie wirkt sich aber auch auf die Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz über ein Institutionelles (Rahmen-)Abkommen (InstA) aus. Der Fahrplan sah vor: Die Schweiz stimmt am 17. Mai 2020 über die Begrenzungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) ab. Kurz danach erwartet die EU die Stellungnahme des Bundesrates, ob er den Entwurf zu einem InstA unterschreibt oder nicht. Sollte das Schweizer Stimmvolk die Begrenzungsinitiative annehmen, wäre dies wahrscheinlich das Ende der Bilateralen Abkommen zwischen der EU und der Schweiz. Jetzt ist alles anders: Die Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Epidemie führen auch zu einer Verschiebung der Abstimmung vom 17. Mai 2020. Der Urnengang soll im September nachgeholt werden. Die Schweizer Parteien unterstützen diesen Schritt, und auch die EU und ihre Mitgliedstaaten scheinen damit keine Probleme zu haben. Es gibt jetzt eben ganz andere Prioritäten. 

«Brüssel» kann nicht einfach «diktieren», wie dies viele meinen, selbst nicht bei so schwerwiegenden Ereignissen wie einer globalen Pandemie. Vielmehr haben die EU-Mitgliedstaaten wieder einmal bewiesen, dass der nationale Reflex noch immer tief verwurzelt ist. In solchen Situationen zeigt sich, dass ein funktionierender Binnenmarkt nicht selbstverständlich ist. Es bedarf immer wieder des Engagements und der Solidarität der beteiligten Staaten, ihn im Interesse aller funktionsfähig zu erhalten.