«Wir leben heute im Überfluss»

Johann Wohlwend (†) mit Gratulanten: v. l. Fürst Hans-Adam und Fürstin Marie, Rita Näscher-Jäger, Vorsteher Freddy Kaiser, Anneliese Marxer-Mündle.

Am 11. Juni 2005 besuchten wir Johann Wohlwend (†) in seinem Heim Nr. 212 / Peter- und Paulstrasse 9 in Mauren. Im Volksmund wurde er nur der «Wabel Johann» genannt. Er war ein wandelndes historisches Lexikon, wusste sehr viel über die Familien in seiner Heimatgemeinde und konnte weit in die Vergangenheit zurückblicken. Die Erzählungen aus seiner Jugendzeit waren sprichwörtlich. 

Text: Herbert Oehri

Viele seiner Erinnerungen sind in der fünfteiligen Buchreihe «Menschen, Bilder und Geschichten – Mauren von 1800 bis heute» verewigt. Der «Wabel Johann» war Jahrgang 1910. Johann wurde 100 Jahre alt. Wir haben einige seiner Erzählungen und Erinnerungen zu Papier gebracht: 

«Das Dorf war bei meinem Aufwachsen fast durchwegs bäuerlich geprägt. In fast jedem Haus gab es Land- und Waldwirtschaft. Wir mussten schon als Kinder mit auf die Felder und in den Wald. Denn jede Hand wurde gebraucht. Die Zeiten waren in den Zwanziger- und Dreissigerjahren im ganzen Lande nicht gerade rosig. Wir hatten zu Hause eine kleinen Bauernbetrieb und mussten keinen Hunger leiden. Aber ich kannte Familien, die nicht jeden Tag satt wurden. Man bedenke, es war während des Ersten Weltkrieges.

Kirche griff in den Alltag ein
Die Kirche griff in unserer Jugendzeit weit mehr in das tägliche Geschehen ein als heute. So durfte am Sonntag niemand bei der Messe fehlen. Die Leute gingen häufiger zur Kommunion, die grossen Kirchenfeiertage wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Lichtmess,
1. Hl. Kommunion, Firmung usw. wurden in festlichem Rahmen begangen. Auch der Rundgang «um die Felder» war weit und lang. Man betete um Gottes Segen für eine reiche Ernte, auf die man damals in einem Bauerndorf angewiesen war. Denn die Leute lebten nur von den Erträgen, welche Feld und Flur hervorbrachten. Daneben gab es in jedem Bauernhaus viele Hennen (Hühner) und vielfach neben der Viehzucht auch einige Schweine im Stall. Die Hühnereier waren zum Verzehr bestimmt, sie waren aber auch ein begehrtes Zahlungsmittel. Ein Ei war etwa 25 Rappen wert. So gab es ein paar Franken Bargeld, um andere Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen. Wir hatten viele Jahre lang eine Eierzentrale in unserem Haus Nr. 212 eingerichtet. Es gab Monate, da hatten wir bis zu 4000 Eier pro Woche für den Versand bereit. Die Eier wurden wöchentlich von Ludwig Marock (Popers) abgeholt, der neben dem Baugeschäft auch ein Transportunternehmen unterhielt, und nach Buchs gebracht. Wir verdienten als Sammelstelle einen Rappen pro Ei.

Früher gab es in Mauren auf jedem Bauernhof etliche Schweine. Die Schweinezucht brachte gar manchen Schweinebraten auf den Tisch und manchmal auch ein paar Franken in den Geldbeutel. Denn auf dem Eschner Jahrmarkt, bei dem sich im Oktober die Bauernschaft aus dem ganzen Unterland traf, wurden nicht nur Vieh und Pferde, Schafe usw. gehandelt, sondern auch Schweine. Ein Ferkel brachte 30 bis 40 Franken ein. Im Durchschnitt verkaufte man zwei Ferkel. Ich habe noch vergessen zu erwähnen, dass es in Mauren bis in die 1940er-Jahre einen Hühnerhirten gab. Der letzte war Dominik Marock vom Popers, den die Leute wegen seiner scharfen Augen auch den «Luchs» nannten. Ihm entging keine Henne. Erwischte er eine Henne auf Nachbars Grundstück, dann schrieb er den Besitzer auf, und dieser musste dann pro «fremdgegangene» Henne 25 bis 30 Rappen Strafe bezahlen. 

Johann Wohlwend war Imker mit Leib und Seele.

Früher: Enger Zusammenhalt
Der Zusammenhalt der dörflichen Gemeinschaft war enger als heute. Alle kannten sich, und wenn irgend jemand im Dorf ein Haus bauen wollte, durfte er sich darauf verlassen, dass ihm die Familie, die Verwandten, die Nachbarn und weitere Personen aus dem Dorf tatkräftig halfen. Diese Nachbarschaftshilfe gibt es heute kaum mehr. Jeder Einzelne ist heute mit sich selbst beschäftigt. Dabei geht der Gemeinschaftssinn leider immer mehr verloren. Das ist wohl die Schattenseite des Wohlstands.

Getreideanbau: Dreschen
Ich erinnere mich noch gut an meine Jugendzeit, als ich bei meiner Tante, dem «Urschile» Wohlwend, geb. Frick, Haus Nr. 85 «i dr Gölla» (Teilstück des heutigen Weiherrings in der Nähe des Vereins- /Jugendhauses) selber Weizen, Roggen und «Tüarka» nach alter Väter Sitte drosch. Der Getreideanbau beschränkte sich fast ausschliesslich auf den Anbau von «Fäsa» (Dinkel), auch Korn genannt. Nach der Reife wurde er mit der «Sechla» (Sichel) geschnitten, in Garben gebunden und an luftiger Stelle in der Scheune oder im Stallgebäude aufbewahrt. Das Korn wurde getrocknet, bis man dann im Winter Zeit zum Dreschen mit dem Dreschflegel hatte. Der Drei- oder Viertakt einer Dreschergruppe wurde stets gerne gehört. Vor dem Tenn des «Urschile» kamen beim Dreschen immer Leute zusammen, um das Schauspiel anzusehen. Der «Tröschpflegel» bestand aus einer ca. zwei Meter langen Stange, mit einem ausgebohrten Loch am Ende, durch das ein Lederriemen gezogen war zum Anbinden des «Pflegels» (ein etwa 50 cm langer, runder, glatter Holzkloben von ca. 7 cm Durchmesser, leicht verdünnt am oberen Ende, mit einem Loch zum Durchziehen des Riemens). Beim Dreschen beschrieb der «Pflegel» eine parallel zur Stange verlaufende Kreisbewegung. Die ausgedroschene Frucht, bei der die Körner noch im Spelz eingeschlossen waren, wurde durch das Schütteln in einer «Wanna» (muschelförmiger, nach vorne offener Korb mit zwei Griffen auf den nach vorne immer niedriger werdenden Seiten) gereinigt. Vom Korn wurden ca. fünf Kilo in diesen Korb geschüttet, und der Korb, auf den Beckenknochen aufgestützt, wurde schnell auf und ab bewegt. Dadurch wurde der leere (kornlose) Spelz nach vorne transportiert und zusammen mit Staub, Strohresten etc. vom guten Korn getrennt. Das gereinigte und getrocknete Korn wurde im «Karnpüntel» (Kornsack) in die Mühle geschickt, wo die Körner vom Spelz getrennt und dann zu sehr weissem Mehl zermahlen wurden. Das leere «Gschprüal» (Spelz) wurde vom Müller zurückgeliefert. 


Wir mussten schon als Kinder mit auf die Felder und in den Wald. Denn jede Hand wurde gebraucht. Die Zeiten waren in den Zwanziger- und Dreissigerjahren im ganzen Lande nicht gerade rosig.

Johann Wohlwend (†)

 

Am Abend, nach getaner Arbeit, sassen in früheren Zeiten die Leute vor ihren Häusern. Fast alle Bauernfamilien hatten dort eine Bank, auf der sich die Nachbarn trafen und sich die neuesten Ereignisse aus dem Dorf und dem Land erzählten. Es gab weder Radio noch Fernsehen. 

Radiogerät in Mauren
Eines der ersten Radiogeräte in Mauren besass der «Bretschabur» Johann Bühler (1863–1946). Sein Sohn Hanne (1901–1960), welcher 1925 in die USA ausgewandert war, schickte ihm ein solch neues Gerät. So hörte man Nachrichten und Musik aus aller Welt. Oft dröhnte dieser Apparat dermassen laut, dass ihn fast die halbe Gemeinde hören konnte. 

Radfahren war ein Luxus
Ich erinnere mich noch an die vier Personen, welche die ersten Fahrräder in Mauren besassen. Es waren der Schuhmacher Andreas Kieber von der Binza, mein Vater Josef, Daniel Heeb vom Popers und Johann Kieber vom Popers Nr. 7. Die Fahrräder waren fast so schwer wie später die Motorräder. Das ganze Gestell war aus Eisen und die Räder aus Vollgummi. Dennoch machten die vier «alten Herren» oft Ausfahrten und wurden überall bestaunt.

Der erste Fernsehapparat
Dieser stand im Gasthof «Hirschen» und gehörte dem Wirt Rudolf Öhri, der ein kleines Zimmer eingerichtet hatte, wo sich meist jüngere Leute trafen, um dieses neuzeitliche Gerät «auszuprobieren» und fernzusehen. Ich war fasziniert – was da alles zu sehen war! Das war Anfang der 1950er-Jahre. 

Kinderausflug: Ein Wagen voller Kinder in der Gänsenbach-Kurve beim «Töpfer-Haus» Nr. 58 des Roger Matt.
Rechts der damalige Garten von Josef Kieber «Simma-Sepp» Nr. 59. Entlang dieser Grenze floss früher ein offener Bach in Richtung Riet.

Es ging ständig aufwärts
Die Gemeinden bekamen vom Land ständig mehr Geld, weil das Land jedes Jahr Millionen von Franken einnahm. Die Leute begannen in den Fabriken Geld zu verdienen und bauten eigene kleinere und mittlere Unternehmungen auf. Viele Stalltüren wurden geschlossen, denn in der Fabrik oder im Gewerbe war das Geld – trotz Nachtschichten und harter Arbeit – doch «ringer» (leichter) zu verdienen als in der Landwirtschaft. Das Land, die Gemeinden und die Gesellschaft begannen sich zu wandeln. Die AHV wurde eingeführt. Für jeden älteren Menschen waren diese Beiträge wie ein Segen. Der Wohlstand hielt Einzug. Überall errichteten Land, Gemeinden und Private grosse Projekte, Häuser und Wohnsiedlungen, Strassen und Schulen, und die Bevölkerung wuchs schnell, auch weil nach und nach immer mehr Personen eingebürgert wurden. 

Heute ist das soziale Netz gut ausgebaut. Arbeitsplätze sind genügend vorhanden. Die rund 15 000 Grenzgänger, die täglich nach Liechtenstein zur Arbeit kommen, sind der beste Beweis einer florierenden Wirtschaft. Jeder hat Geld, viele im Überfluss, manche müssen sich immer noch nach der Decke strecken. Wichtig wird es aber meiner Meinung nach für die Zukunft sein, wie sich die internationale Situation unserem kleinen Staat gegenüber entwickelt. Die Frage der Integration ist auch noch nicht befriedigend geklärt. Es ist eine alte Weisheit: Solange es allen gut geht, gibt es in der Regel keinen sozialen Unfrieden. Hängt aber der Brotkorb, aus welchen Gründen auch immer, höher, dann werden wir wahrscheinlich keine so friedlichen Zeiten wie heute mehr erleben. Deshalb wäre oft weniger auch mehr. 

Sie haben mich gefragt, ob ich lieber heute als vor 90 Jahren Kind sein wollen würde. Diese Frage ist nicht einmal so leicht zu beantworten. Ich glaube, beide Zeitepochen haben oder hatten Vor- und Nachteile. Nur eines ist mir aufgefallen: Liechtenstein lebt seit Jahren schon in übermässigem, ich möchte fast sagen ungesundem Reichtum. Und wenn eines Tages die sogenannten «sieben mageren Jahre» anbrechen, und mit denen muss man immer rechnen, könnte sich die soziale Lage schnell ändern. Meine Generation, und die davor, musste hart durchs Leben. Solche Zeiten wie wir sie erlebt haben, will niemand. Aber … wir waren trotzdem und mit viel weniger zufrieden. Das kann man heute nicht mehr behaupten.»