Gleichberechtigung sorgt noch lange nicht für Gerechtigkeit

1992 wurde der Gleichstellungsartikel in die liechtensteinische Verfassung eingefügt. Seit 25 Jahren sind in Liechtenstein also Männer und Frauen, zumindest rechtlich gesehen, gleichberechtigt.

Sollten anfänglich noch einige die Hoffnung gehegt haben, dass sich durch gleiche Rechte automatisch auch eine Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern einstellen würde, scheint inzwischen wohl den meisten klar, dass die gleichen Rechte alleine keine oder zu wenig Wirkung zeigen. Nach wie vor (und seit den letzten Wahlen mehr als auch schon) sind die Frauen in Liechtenstein politisch untervertreten, sie sind nicht bzw. selten in Führungspositionen der Wirtschaft anzutreffen, in den Medien weniger präsent und verdienen weniger als ihre männlichen Kollegen bei gleicher Qualifikation.

Warum aber reichen die gleichen Rechte nicht aus, um für Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu sorgen? Es gibt ein bekanntes Gleichnis, das sich auf die Gleichberechtigung von Frauen und Männern sehr schön anwenden lässt: Wenn sich zwei Personen von unterschiedlicher Grösse am Rand eines Spielfelds befinden, das mit einem Zaun eingegrenzt ist, und die zwei Personen gleich grosse Kisten besitzen, um darauf stehen zu können (gleiche Rechte), wird trotzdem die grössere der beiden Personen mehr sehen. Das Problem besteht darin, dass Männer und Frauen unter ungleichen Anfangsbedingungen mit gleichen Rechten ausgestattet wurden und dann erwartet wird, dass sich daraus eine gerechte Situation ergibt. Um diesen Missstand zu beheben, kann ein Staat entweder diejenige Gruppe unterstützen, die mit schlechteren Voraussetzungen an den Spielfeldrand tritt – in diesem Fall die Frauen – oder aber die Gesellschaft als Ganzes kann versuchen, die Rahmenbedingungen – im Falle des Gleichnisses die Höhe des Zaunes – zu verändern, indem die Bedingungen für Frauen und Männer angeglichen werden. Dies kann nur dann geschehen, wenn nicht nur Frauen sich der (vormaligen) Welt der Männer anpassen, sondern umgekehrt auch die Männer in die Welt der Frauen vordringen und dort ebenfalls Verantwortung übernehmen. Dass die Wirtschaft aufgrund von Fachkräftemangel und düsteren Umsetzungsszenarien der Masseneinwanderungsinitiative etc. ein Interesse daran hat, die Frauen in die Welt der bezahlten Erwerbstätigkeit zu integrieren, erstaunt nicht weiter. Dass aber nicht darüber diskutiert wird, was mit der Arbeit geschehen soll, welche die Frauen bis anhin unbezahlt erledigt haben (Haushalt, Kinderbetreuung), ist doch einigermassen erstaunlich. Um Gleichberechtigung, Chancengleichheit und Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern zu erreichen, müssen sich Gesellschaft und Staat unter anderem mit der Frage der Verteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern auseinandersetzen. Um nochmals auf das Gleichnis zurückzukommen: es wäre bereits ein grosser Schritt, dem kleinsten Zuschauer eine höhere Kiste zu geben. Grundsätzlich aber wäre es auch sinnvoll, sich über die Höhe des Zaunes Gedanken zu machen.

Dr. Linda Märk-Rohrer 
Politikwissenschaftlerin, Liechtenstein-Institut